Säkularisierte Matthäus-Passion
Vor knapp einem Vierteljahrhundert stürmte bis heute unvergesslich der junge Bariton Dietrich Henschel als Jesus mit seinen Jüngern über einen Steg quer durch das Parkett auf die Bühne der Deutschen Oper, d.h. in die Stadt Jerusalem, und die ebenfalls noch ganz junge Michaela Kaune berührte mit ihrem innigen Gesang. Götz Friedrich hatte Inszeniert und Günther Uecker war der Bühnenbildner. Vor einigen Jahren brachte Peter Sellars das Oratorium in die Berliner Philharmonie, Simon Rattle dirigierte, so dass ein inszeniertes Oratorium kein Novum für das Berliner Publikum ist. Allerdings hatte man 1999 in der Deutschen Oper die stark verkürzte Fassung des Wiederentdeckers und Überarbeiters der Passion, Felix- Mendelssohn-Bartholdy, gewählt, während nun Benedikt von Peter , Intendant des Opernhauses Basel, sich der Originalfassung von Johann Sebastian Bach annahm. Seine Inszenierung wurde bereits mit Erfolg in seinem Haus in Basel dem Publikum vorgestellt.
Anders als Verdis Aida, die die Rezensentin in der Regie von Benedikt von Peter, ebenfalls an der Deutschen Oper, meidet wegen des optischen Nichtseins ganzer Partien wie des Amonasro oder wegen einer Wurststullen schmierenden Amneris, die vergeblich mit hausfraulichen Tugenden gegen das Phantom Aida ankämpft, bietet sich die Masche, mit der der Regisseur arbeitet, für die Matthäus-Passion an: Es geht um die Auflösung der Grenze zwischen Bühne und Publikum, die Platzierung von Publikum auf der Bühne und die Verteilung von Mitwirkenden im Publikum (Bühne Natascha von Steiger). Bach selbst hatte vorgesehen, dass mehrere Chöre und Orchestergruppen im Raum der Thomaskirche verteilt wurden und miteinander korrespondierten. Da kann es konsequent sein, die Aufteilung in einzelne Gruppen ins Extreme zu führen und gleichzeitig die Grenze zwischen Künstlern und Publikum aufzuheben, ja noch weiter zu gehen, indem die Partien aufgeteilt werden zwischen professionellen Sängern und daneben einem Ensemble von Schauspielern, die die Verfolgung, Verurteilung und Kreuzigung Jesu Christi darstellen. Dass diese stummen Figuren Kinder sind, übt zugleich einen eigenartigen Reiz aus und führt doch zunächst einmal zu staunendem Zögern bei der Akzeptanz dieser Lösung. Diese weicht allerdings sehr schnell einer uneingeschränkten Begeisterung für die mit ungeheuer intensivem Engagement und nie nachlassender Konzentration bei der Sache seienden kleinen Drsteller, die man nur deswegen ein wenig bedauert, weil sie ungeheuer spießige Klamotten im Stil der Sechziger tragen müssen, die Mädchen durchweg in braven Kleidchen, die Jungen in ebensolchen Westen (Kostüme Lene Schwind). Nur eine tanzt in der zweiten Hälfte des Abends zunehmend aggressiver werdend aus der Reihe, „unsere kleine Jesa-Greta, die die Geschichte mit Blick auf die Zerstörung der Natur befragt und am Ende einen anderen Weg einschlägt.“ Der führt sie dahin, den Rock mit einer Hose zu tauschen, Jesus aus dem Leichentuch zu rollen, andere Kinder von ihrer Meinung zu überzeugen und mit Plakaten mit Parolen wie Opfer?, Demut?, Verantwortung? auf die Bühne zu schicken. Es hätte schlimmer kommen können, denn in einem Interview hatte der Regisseur auch über „eine Art Revolution im Bereich des Genderns oder der Geschlechterneuordnung“ referiert. „Themen wie Nachhaltigkeit und Ökologie werden massiver verhandelt.“ Mist, dass Johann Sebastian Bach davon noch nichts gewusst hat. Aber wie gesagt, über weite Strecken hinweg erlebt man auch szenisch eine durchaus bewegende Leidensgeschichte, fühlt sich als ein Teil von ihr, auch da das Publikum aufgefordert ist, „O Haupt voll Blut und Wunden“ und „Was mein Gott will“ mitzusingen, dazu sogar Text und Noten in die Hand gedrückt bekam.
Wenn an diesem Abend die akustische Seite zwischen Oratorium und Oper, zwischen Barock und Verismo schwankte, dann lag das an den Sängern, während das Orchester unter Alessandro De Marchi, teilweise auf Originalinstrumenten spielend, allerfeinsten Bach zu Gehör brachte, und auch der Chor, verstärkt durch viele Berufs- und Laienchöre, sorgte für ein homogenes Klangbild, zutiefst berührend und trostspendend. Chorleiter Jeremy Bines wie auch der Leiter des wackeren Kinderchores Christian Lindhorst konnten sich uneingeschränkten und Ovationen nahe kommenden Beifalls erfreuen.
Darstellerisch weit über die Grenzen eines Evangelisten hinaus geht der Tenor Joshua Ellicott, der auch vokal alles andere als die Gemessenheit eines Peter Schreier anbietet, sondern in geradezu veristische Vollen geht. Sein Tenorkollege Kieran Carrel hat eine ebenso schöne Stimme und dazu noch eine engere Beziehung zur Gattung Oratorium. Ausgerechnet der Jesus von Padraic Rowan irritiert etwas durch einen Mangel an Balsam in seiner recht dunklen Stimme. Äußerst sonor setzt Joel Allison seinen Bass ein, auch Michael Bachtadze kann als Petrus reüssieren. Ein Wunder an strömender, dunkler Makellosigkeit ist der Alt von Annika Schlicht, gerade begeistern konnte Siobhan Stagg als Sophie an der Staatsoper und ist nun eine würdige Vertreterin des Sopranfachs an der Deutschen Oper.
Hätte Benedikt von Peter den Mut gehabt, auf Aktualität vortäuschende Mätzchen zu verzichten, dann hätte das ein ganz großer Abend werden können. So wurde es ein musikalisch hoch befriedigender, von so überflüssigen wie törichten Aktualisierungen nur leicht beeinträchtigter, der Chöre, Kinderdarsteller und Orchester in bestem Licht erstrahlen ließ.
Eines sei noch hinzugefügt: Die vielleicht anerkennenswerteste Leistung von allen ist die, so viele ganz junge Menschen für ein solches Projekt begeistert und bei der Stange gehalten zu haben.
Ingrid Wanja, 5. Mai 2023
Matthäus-Passion
Johann Sebastian Bach
Regie Benedikt von Peter
Chöre Jeremy Bines
Kinderchor Christian Lindhorst
Musikalische Leitung Alessandro De Marchi