In seiner letzten Pressekonferenz hatte Barrie Kosky, Intendant der Komischen Oper Berlin, versprochen:“Wie machen weiter“, und in Voraussicht einer längeren Dauer der Einschränkungen durch Corona den gesamten Spielplan für 2020/21 umgestoßen und einen neuen, pandemiegeeigneten konzipiert, zunächst bis zum Ende des Jahres 2020. Nun nach der ersten Premiere der neuen Spielzeit mit zwei Beckett-Einaktern und Schönbergs Pierrot Lunaire, bekräftigte der an diesem Abend als Regisseur Tätige seine Aussage von damals mit einem erneuten: „Wir machen weiter, meine Antwort auf Corona ist Offenbach“, und zwar noch in diesem Monat mit „Die Herzogin von Gerolstein“. Es blieb aber nicht bei dieser trotzigen Kampfansage, Barrie Kosky würdigte auch die Bereitschaft der deutschen Politik, Kultur so zu subventionieren, dass kein einziges Mitglied der Komischen Oper entlassen werden oder in Kurzarbeit gehen musste, woraus die Pflicht erwachse, Kultur anzubieten, denn „Kunst ist immer!“
Eigentlich für einen späteren Zeitraum vorgesehen war Schönbergs Pierrot Lunaire, aber nun bot sich das Stück wegen der kleinen Orchesterbesetzung und als Ein-Mann-Unternehmen oder besser das einer Frau auf der Bühne geradezu an, um, ohne viel über Abstandsregeln nachdenken zu müssen, zur Aufführung zu gelangen. Davor wurden zwei Einakter von Samuel Beckett , Nicht ich und Rockaby geboten, womit auch schon die Entscheidung gefallen war, nicht eine Opernsängerin, sondern eine Schauspielerin, allerdings eine, die sich auch als Diseuse und Operettendiva längst einen Namen gemacht hat, zu engagieren: Dagmar Manzel. Christine Schäfer oder Yvonne Minton haben Pierrot Lunaire gesungen, die Wahl der Komischen Oper kann sich auf eine Aussage Schönbergs aus dem Jahre 1931 berufen:“Pierrot Lunaire ist nicht zu singen. Gesangsmelodien müssen in einer ganz anderen Weise ausgewogen und gedacht werden als Sprechmelodien“.
Für diese Auslegung war La Manzel genau die richtige Besetzung, von Katrin Kath in einen Matrosenanzug, die Einheitskleidung der Jahrhundertwende-Kinder, gesteckt, ein kindlicher Pierrot mit Schmuseteddy , der sich sein weißes Kinderbett erst einmal von der Rückwand der riesigen, schwarzen Bühne an die Rampe schieben muss, um dann mal als kindlich charmanter, mal koboldhafter, mal übermütiger, mal maliziöser Gnom oder Elfe im, um das Bett herum oder sogar unter demselben seine Sehnsüchte, Scherze oder Bosheiten zu äußern oder zu treiben. Auf bewundernswerte Weise unterstützt dabei vom Dirigenten Christoph Breitler, konnte die Schauspielerin dem Anspruch Schönbergs, den Rhythmus „haarscharf“ einzuhalten und zu einem Sprechen anzuhalten, dass „in einer musikalischen Form mitwirkt“, auf bewundernswerte Weise gerecht werden. Im Orchestergraben genossen nach einem halben Jahr quasi Berufsverbots Gabriel Adorjan (Violine), Felix Nickel (Cello), Magdalena Naima Bogner (Flöte), Luise Lieberman (Klarinette) und Frank Schulte (Klavier) ihren ersten Auftritt nach langer Zwangspause.
Zuvor hatte man die beiden Einakter Becketts, die die Sprechkünstlerin Manzel in ganz besonderer Weise forderten, erleben können. In „Nicht ich“ ergießt sich, nachdem ein Luftkampfgeschwader eine Stadt mit einem Bombenteppich belegt zu haben scheint, man meint, Schreie in ihm untergehender Menschen zu hören, ein Redeschwall einer Person, von der nur der grell rot geschminkte Mund zu sehen ist, der, hin und wieder von einer grässlichen Lache unterbrochen, einen nicht zu stoppenden Schwall von Wort- und Satzfetzen in klarer Artikulation von sich gibt, als gelte es, durch dauernde akustische Präsenz das Leben zu retten.
„Rockaby“ erinnert an ein Kinderlied, an ein Lullaby mit grausamem Inhalt, es geht um eine alte Frau, die den Tod durch das Schaukeln ihres Stuhls und unablässiges Reden daran hindern will, sein Handwerk auszuüben, die mit immer schwächer werdendem „Mehr“ Redefluss wie Schaukelbewegung, schon zum Stillstand gebracht, wieder in Bewegung setzt, ehe beide ein endgültiges Ende finden. Wie Dagmar Manzel, scheinbar ohne die Lippen zu bewegen, diesen Kampf um den letzten Lebensfunken gestaltet, ist ganz große Schauspielkunst, ihre Präsenz auf riesiger schwarzer Bühne (Valentin Mattka) enorm. Auch wenn nur jeder sechste Platz im Haus besetzt war, hörte sich der Beifall für alle Mitwirkenden beachtlich an und war Zeuge für das Bedürfnis der Menschen, gerade in schweren Zeiten Kultur zu genießen.
Fotos Monika Rittershaus
1.10.2020 Ingrid Wanja