Premiere am 13.01.2018
Zwar trägt der jüngste Abend des Balletts Zürich den Titel der zweiten Choreografie, EMERGENCE, doch um die Herausbildung von neuen Eigenschaften durch das Zusammenspiel und die Konkurrenz von Elementen (Emergenz) geht es im weitesten Sinne auch im ersten Teil, welcher mit der atemberaubenden Tanzschöpfung SPEAK FOR YOURSELF von Sol León und Paul Lightfoot aufwartet. Diese hoch interessante Kreation der beiden Leiter (sie künstlerische Beraterin, er künstlerischer Direktor) und Hauschoreografen des Nederlands Dans Theater kann man mit Fug und Recht als Gesamtkunstwerk bezeichnen. Anregung zur Choreografie erhielten die beiden wohl aus der Sammlung Daodejing (Tao-Te-King) des Lao Tse, Schriften, welche ungefähr wohl um 400 v. Chr. entstanden waren. Darin geht es um die Überwindung von vermeintlichen Gegensätzen, um die Vereinigung von Yin und Yang, männlichen und weiblichen Elementen (Feuer und Wasser).
Wenn die Elemente zusammenspielen, wird von sich aus alles in Ordnung sein und das Schwache und Weiche (das Wasser, die Frau) wird über das Harte und Starke (Feuer, der Mann) siegen. Die Choreografie beginnt geradezu spektakulär, indem ein Mann auf der schwarzen Bühne erscheint, aus dessen Rücken unaufhörlich Rauch aufsteigt. Zu seinem kraftvollen Tanz verbreitet sich der Rauch über der Bühne, hängt wie eine bedrohliche (aber auch äusserst ästhetisch-dekorative) Nebelschwade über der Szenerie. Zur repetitiven Musik von Steve Reich (Come out), in welcher ein Satzteil aus einer Gerichtsverhandlung gegen einen Schwarzen in einer Endlosschleife unerbittlich und immer schneller wiederholt wird, scheint der Mann langsam auszubrennen. Da setzt Bachs Kunst der Fuge ein, nach und nach erscheinen fünf weitere Männer, tanzen ganz unterschiedliche Stile, von verspielten Pirouetten bis leicht lasziver Attitüde, alles geprägt von einer beeindruckenden Körperlichkeit. Das faszinierende Licht (Tom Bevoort) lässt jeden Muskel, jede Körperfaser der Männer (Jan Casier, Wei Chen, Matthew Knight, Tigran Mkrtchyan, William Moore, Daniel Mulligan) plastisch hervortreten.
Immer wieder wird die Musik Bachs ergänzt durch Steve Reichs Minimal Music, mit ihren Phasenverschiebungen, doch dadurch bekommt die Musik Bachs nicht etwa Konkurrenz, sondern erstaunliche neue Schichten und Sichtweisen. Drei Frauen treten auf (Yen Han, Anna Khamzina und Elena Vostrotina), Abbrechen der Musik, Stille, der qualmende Mann tanzt erneut ein Solo, doch dann setzt ein Sprühregen ein, welcher bis zum Ende anhält, die neun Tänzer auf glitschigem Boden und traumhaft schönen, poetischen Bewegungen inspiriert (jeder auf seine Art – Speak for yourself), das ist alles ungemein berührend, faszinierend und voller Reinheit, wie wenn der weiche Regen eben eine beinahe kathartische Kraft in den Personen entfacht hätte. Herrliche Hebefiguren in den Pas de deux prägen die tänzerische Handschrift nun, es entstehen ein Tanz zwischen Melancholie, Wehmut und Trost. Nach und nach gehen die Tänzer dann ab, verschwinden im Dunkel, der Regen fällt in sich zusammen (dieses Licht!!!!!, ein Traum!) – doch einer bleibt zurück, die Arme wie die verletzten Flügel eines Vogels ausgebreitet. Ein Mahnmal, ein Fragezeichen – oder eine Aufforderung, an der Schaffung der Verbindung zwischen Yin und Yang weiterzuarbeiten?
Crystal Pite ist eine der ganz wenigen Frauen, welche es an die Spitze der Choreografinnen des zeitgenössischen Tanzes geschafft haben. Ihre 2009 für das National Ballet of Canada entstandene Choreografie EMERGENCE (zur Musik von Owen Belton) sorgte nun auch in Zürich für Begeisterungsstürme. Darin nimmt sie die sozialen Interaktionen eines Insektenstaates (Bienen, Ameisen) unter die Lupe, verwendet sie als Metapher für die Situation innerhalb einer Ballettcompagnie – und damit auch für die Gesellschaft ganz allgemein. Denn sowohl in einer Tanztruppe als auch im alltäglichen Zusammenleben bringt uns nur das Gemeinsame weiter, das Schaffen im Team, wo jeder etwas von seinen Fähigkeiten einbringen kann, das Puzzle des Werdens einer Idee sich aufgrund der individuell eingebrachten Fähigkeiten und Qualitäten der einzelnen Teile sich zu einem vollendeten Ganzen fügt. Das mag nun alles etwas intellektuell klingen, doch Crystal Pites Arbeit, welche von den fast 40 Tänzer des Balletts Zürich mit bestechender Kraft, Synchronizität, Virtuosität und Körperspannung umgesetzt wurde, entfaltet ein ungeheure Intensität.
Gebannt folgt man dem choreografischen Einfallsreichtum Crystal Pites, der spannungsgeladenen Umsetzung durch das Ballett Zürich, die man nur in höchsten Tönen loben kann. Da sie alle – eben wie die Insekten – gemeinsam am Erfolg des Ganzen beteiligt sind, kann man gar nicht in Versuchung geraten, einzelne Tänzer herauszuheben, sie sind allesamt eine Wucht! Das reicht vom virtuosen Tanz auf der Spitze der „Weibchen“, wenn sie mit geballter Frauenpower wie eine Wand die muskulösen und dominanten Männer mal zurückdrängen, bis zu den angewinkelten Armen und den unglaublich insektenhaften (und überaus virtuosen) Bewegungen der Masse. Dazu kommt das Bühnenbild (Jay Gower Taylor), welches mit seinen sich nach der Mitte verdichtenden Nadeln ein Nest andeutet, eine Röhre führt dann nach hinten. Durch diese Röhre strömen zu Beginn die Insekten heraus – durch sie kommt am Ende aber auch ein beängstigendes oranges Licht, das alle blendet, bevor dann die Bühne im Dunkel versinkt. Auch hier (wie bei SPEAK FOR YOURSELF) hängt also für mich ein Fragezeichen in der Luft – der Idealzustand der Welt scheint für alle drei Choreografen noch nicht erreicht zu sein, aber sie zeigen bedenkenswerte Wege und Möglichkeiten auf.
Ein Abend, der einen nicht so schnell loslässt, ein Abend auch, den man unbedingt ein weiteres Mal sehen möchte, um sich in die Themen zu vertiefen, neue Aspekte zu entdecken, ein Abend auch, der beim Premierenpublikum Beifallsstürme auslöste.
Bilder (c) Gregory Batardon, mit freundlicher Genehmigung Ballett Zürich