Berlin: „Das Floß der Medusa“, Hans Werner Henze

Wer war denn nun eigentlich schuld daran, dass im einer ganzen Generation ihren Namen gebenden Jahr 1968 die Uraufführung von Hans Werner Henzes Oratorium Das Floß der Medusa nicht stattfinden konnte, den Rundfunkhörern nur eine Aufzeichnung der Generalprobe mit Edda Moser und Dietrich Fischer-Dieskau, dem anwesenden Premierenpublikum aber eine regelrechte Schlacht mit Berliner Studenten, vorwiegend vom SDS, und Hamburger Polizeikräften geboten wurde? Gab vielleicht den Ausschlag für das Misslingen der Uraufführung die Weigerung des RIAS-Kammerchors, unter einer von den Studenten auf der Bühne gehissten roten Fahne zu singen? Der Spiegel hatte mit einem Angriff auf Henze als „Privatier der modernen Musik“ die eine Seite, die Hörzu die andere Seite mit ihrem „Musik für Che Guevara“ aufgehetzt; dessen Hinrichtung, die Notstandsgesetze und Vietnam sowie das Attentat auf Rudi Dutschke hatten ihre Wirkung in aufgeheizter Stimmung nicht verfehlt. Sei wie es sei, die „Kulturindustrie“, als welche die Studenten Klassik und ihr Publikum verunglimpften, besteht weiter, hoch subventioniert, aber doch nicht erst seit Corona immer wieder um die Existenz bangend. Hamburg aber durfte erst 2001 unter Ingo Metzmacher eine ungestörte Aufführung genießen, nachdem bereits 1990 Henze selbst das abschließende, im Rhythmus des Schlagzeugs präsente „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“ musikalisch übermalt hatte. Wer es unbedingt hören möchte, kann es mit etwas Phantasie noch immer tun.

© Jaro Suffner

Die Berichte zweier Augenzeugen der durch einen unfähigen Kapitän herbeigeführten Schiffkatastrophe vor der westafrikanischen Küste im Jahr 1816, die auf einem von den Rettungsbooten abgekoppelten Floß mit nur acht weiteren von ursprünglich 147 Unglücklichen überlebten, hatten den französischen Maler Jean-Louis André Théodore Géricault zu seinem Gemälde Das Floß der Medusa inspiriert, das wiederum noch 2017 den Österreicher Franzobel zu seinem gleichnamigen Roman animieren konnte. In den Jahren 1987 bis 1991 entstand der Film von Iradj Azimi über das brisante Thema. Den 68ern mochte Das Floß der Medusa ein Symbol für den Klassenkampf sein, heutigen Klimabewussten das für den bevorstehenden Kampf um die Ressourcen, Regisseur Tobias Kratzer hingegen sieht in dem Stück „fast eine existenzialistische Menschheitsparabel“ und versucht, „es in seiner Parabelhaftigkeit zu belassen“.

Dafür hat er sich von Bühnenbildner Rainer Sellmaier im Hangar 1 des stillgelegten Flughafens Tempelhof ein 24 mal 25 Meter großes Wasserbecken mit einer Tiefe von immerhin einem halben Meter bauen lassen, sicherlich für die Proben in tropischer Hitze kein unangenehmer Aufenthaltsort für den Bewegungschor, kritischer schon die akustischen Verhältnisse, wobei der starke Hall einem Oratorium, das Das Floß der Medusa schließlich ist, mehr entgegenkommt, als sich als Hindernis zu erweisen. So könnte sich der Zwangsumzug aus der sanierungsbedürftigen Komischen Oper in das Schillertheater und andere Spielstätten noch als kreativitätsfördernder Umstand erweisen – weniger die beiden bis an die Decke des riesigen Raums reichenden Tribünen für die Zuschauer, für deren Ersteigen man schwindelfrei und gut zu Fuß sein sollte.

© Jaro Suffner

Es gibt nur drei Solisten: einen Sprecher für den Fährmann der Toten, Charon, einen Sopran für den Tod und einen Bariton für den Mulatten (leider fand sich trotz intensiver Suche kein anderer Begriff) Jean-Charles, der auf dem Gemälde die Retter mit der Fahne herbeiwinkt. Das sieht man in dieser Produktion vor Beginn der Musik und wieder ganz zum Schluss des Werks. Dazu kommen ein Kinderbewegungschor, obwohl wahrscheinlich auf dem historischen Floß keine Kinder waren, und die Chorsolisten der Komischen Oper, die sich nacheinander von der Sphäre der Lebenden zur Sphäre der Toten hin bewegen. So wie die Musik zwar spektakulär allein schon durch die Fülle von Instrumenten ist, dabei aber eher auf Überwältigung als auf Verschrecken setzt, so ist der hochpoetische Text von Ernst Schnabel („die Perle Unvergänglichkeit“) eigentlich gar nicht dazu angetan, das fürchterliche Leiden, verursacht durch Hunger, Hitze, Durst bis hin zum Kannibalismus dem Publikum nahe zu bringen; es bleibt stets ein ästhetischer Genuss, und das nicht nur durch eine den Schiffbrüchigen als Vision erscheinende Jesusgestalt. Befremdlich erscheint, dass nicht die glückliche Besatzung eines der Rettungsboote, sondern der Tod selbst das Seil kappt, mit dem das Floß abgeschleppt werden soll. Am Schluss öffnet sich ein Riesentor und die, wenn zum Teil auch nur für kurze Zeit, Überlebenden folgen einem Lotsenfahrzeug mit der Aufschrift „Follow me“. Überragend sind die Leistungen der Chorsolisten unter David Cavelius, der Staats- und Domchor Berlin unter Kai-Uwe Jirka steht ihm dabei zur Seite. Sicher führt Titus Engel sein Riesenorchester durch die musikalischen Wogen. Wenig zu singen hat Gloria Rehm, sonst Königin der Nacht vom Dienst, als La Mort, aber ihre Partie führt sie in die extremsten Höhenlagen, die sie sicher meistert. Günter Papendell setzt seinen körnigen, standfesten Bariton für den Jean-Charles ein, und Idunnu Münch scheint man dringlich nahegelegt zu haben, wegen der heiklen Akustik sehr deutlich den Charon zu deklamieren, was ihr mit einiger Übertreibung auch gelingt.

Pas de deux mit dem Tod: Gloria Rehm (La Mort) und Günter Papendell (Jean-Charles) / © Jaro Suffner

Der Komischen Oper ist ein spektakulärer Saisonbeginn gelungen, der sich bereits vor der Premiere als solcher abzeichnete mit zwei zusätzlich angesetzten Vorstellungen auf Grund des sensationellen Kartenverkaufs.

Ingrid Wanja, 16. September 2023


Das Floß der Medusa
Oratorium von Hans Werner Henze

Komische Oper Berlin im Hangar 1 des ehemaligen Flughafens Tempelhof

Besuchte Premiere am 16. September 2023

Regie: Tobias Kratzer
Musikalische Leitung: Titus Engel
Chorleitung:  David Cavelius
Orchester der Komischen Oper Berlin