Berlin: „Saul“, Georg Friedrich Händel

Könnte ein dreihundert Jahre altes Oratorium, das von einem über dreitausend Jahre zurückliegendem, historisch nicht gesichertem Ereignis aus dem Alten Testament handelt, empörte Demonstranten auf die Protestkundgebungen gewohnten Straßen Berlins treiben? Durchaus, handelt es sich doch bei Händels Saul um die Auseinandersetzungen zwischen den Philistern, den Vorfahren der heutigen Palästinenser, und den Königen der Juden, Saul und David, deren letzterer das abgeschlagene Haupt Goliaths zu Beginn des Werks auf die Bühne der Komischen Oper schleppt.

© Barbara Braun

Regisseur Axel Ranisch und Dirigent David Bates ziehen allerdings ganz andere Parallelen, wie sie in einem Gespräch im Programmheft zur letzten Produktion im Haus an der Behrenstraße verkünden. Ranisch geht es mehr ums Private, darum, dass er wie Jonathan, der Sohn Sauls und Lichtgestalt des Werks, zwei Schwestern hat und dazu offensichtlich viel Sympathie und Verständnis für den unglücklichen König, der als Mensch durch sein Königtum ins Göttliche erhoben und durch seine Charakterschwäche wieder zurück ins Menschliche befördert wurde. Findet in den letzten  Jahren eine gnadenlose Säkularisierung der Opernstoffe statt, so überrascht  nun in der Komischen Oper, dass man zum Angelpunkt der Geschehnisse die Vorstellung macht, dass Saul fallen muss, weil Gott ihm wegen seiner Gehorsamsverweigerung seine Huld entzieht. Aber auch Psychologisches wird bemüht, wenn sowohl bei Saul als auch bei David eine Depression diagnostiziert wird, die ihren Ursprung in dem Besitz von Macht hat. Und weil wir in der Komischen Oper Berlin sind, darf auch ein liebevoller Blick auf Liebe aller Arten nicht fehlen, insbesondere auf die von Gott gesegnete=Agape, auch wenn das Gespräch und damit die Inszenierung zu dem Schluss kommt: Das Einzige, was hilft, ist Musik. Gestärkt in seiner Bereitschaft, dies alles auch und so zu entdecken und zu empfinden, begibt sich der Zuschauer in die Vorstellung und erlebt einen durch keine einzige Missfallenskundgebung getrübten, geradezu triumphalen Opernabend.

© Barbara Braun

Dass der Regisseur vom Film kommt, zuvor noch keine Oper, geschweige denn ein Oratorium inszeniert hat, merkt man am Beginn, wenn eine verschwörerisch flüsternde Stimme zu wie aus den Anfängen des Filmgenres stammenden, in Schwarz-Weiß flimmernden Bildern die Vorgeschichte aus den alttestamentarischen Büchern Samuel 1 und 2 erzählt. Dieses Stilmittel wird später noch einmal aufgenommen, ehe dem Auge die Sicht auf die eigentliche Bühne gestattet ist. Falko Herold hat das Video wie die Bühne geschaffen, die zunächst ein durchaus der Antike zuzuweisendes Gemäuer zeigt, auf dem ein Taubenpaar thront. Später wird es ein Doppelbett mit weißen Vorhängen, riesige Lautsprecherboxen, Ruinen nach dem verlorenen Krieg, sparsamen Schneefall auf ein Leichenfeld geben, vor allem aber ist der riesige Kopf des Goliath sensationell, den David an den Haaren herbeizieht, auf dessen Stirn ein Thron steht, von dem aus Saul seine Befehle gibt und auf den man mittels langer Leitern klettern kann. Eindrucksvoll ist die filmische Gestaltung der allmählichen Verwesung, bis im nackten Schädel es sich die Hexe von Endor gemütlich machen kann. Zeitlos sind die Kostüme von Alfred Mayerhofer, was Sinn macht, da niemand wissen kann, was unter König Saul gerade modern war.

Das klingt alles ein bisschen nach Blasphemie, als mache sich die Regie über das Stück lustig, was aber keineswegs der Fall ist, denn es gibt durchweg eine schöne Balance zwischen Pathos und Ironie, zwischen Deftigkeit und Zartheit, Massenauflauf und Intimität und viel Liebe für die Figuren, allen voran Jonathan und David. Am Schluss siegt gegenüber dem Öffentlichen, der Inthronisierung Davids, das Private, wenn dieser seinen neugeborenen Sohn vor dem Zugriff durch die euphorisch neuen Waffentaten zustrebenden Israeliten bewahren will. Das wirkt besonders rührend, wenn man weiß, dass David diesen Sohn bald verlieren wird.
Nichts für Puristen ist natürlich ein Opernorchester, das heute Mozart, gestern Verdi, morgen Barockmusik spielt, aber trotzdem leistet David Bates, auch unter Einsatz einiger historischer Instrumente wie Barockharfe oder Orgelpositiv überaus Goutierbares, einen gemessenen-straffen Trauermarsch und durchweg lässt er die Musik leuchten, presst sie in kein Korsett. Mit Lust, Einsatzfreude und Präzision ist der Chor wie immer ein Gewinn für die Produktion (David Cavelius).

© Barbara Braun

Die Zerrissenheit des Saul stellt Luca Tittoto eindrucksvoll dar und verleiht ihm zudem seinen geschmeidigen Bassbariton. Ein Countertenor, aber nicht der trockenen, sondern der süffigen, betörenden Art ist der David von Aryeh Nussbaum Cohen, auch in der Mezza voce farbig und dazu auch noch optisch attraktiv. Nadja Mchantaf muss durch Kratzen am Arm eine psychische Störung dokumentieren, die Stimme ist lieblich blond wie die optische Erscheinung. Ihr künstlicher Babybauch mit dem braunen Strich zwischen Nabel und Scham spricht für die gynäkologischen Kenntnisse in den künstlerischen Werkstätten. Etwas herber in jeder Hinsicht, aber eben so vorzüglich ist die Merab von Penny Sofroniadou. Anrührend spielt Rupert Charlesworth den liebevollen Jonathan, sein leicht herber Tenor ist präsent auch in der farbigen Mittellage. Tansel Akzeybek ist der Hohepriester mit auch viel vokaler Autorität, Ivan Turšić kling recht schütter als die Hexe von Endor, was auch auf Stephen Bronk als Geist Samuels zutrifft, dem er jedoch viel optische Würde verleiht. Eine frische Stimme hat Ferdinand Keller für den Amalekiter, dem im Unterschied zu den blutbefleckt auf der Walstatt liegenden Kindern Israels keine Wiederauferstehung beschieden ist. Es wurde wohl an diesem Abend so viel Kunstblut vergossen, dass die Solisten bei Entgegennehmen des Beifalls erst einmal ins Rutschen bis Fallen kamen, ehe man wischend über die Lache ging und damit Schlimmeres verhinderte. Das waren allerdings die einzigen Fehltritte an diesem durch und durch gelungenen Abend, wie bereits erwähnt, der letzten Premiere im Stammhaus. Mögen der Komischen Oper ebenso große Erfolge in ihren Ausweichquartieren beschieden sein.

Ingrid Wanja, 28. Mai 2023


Georg Friedrich Händel: Saul

Komische Oper Berlin

Premiere am 17. Mai 2023

Inszenierung: Axel Ranisch

Bühne: Falko Herold

Musikalische Leitung: David Bates