Frankfurt: „Don Carlo“, Giuseppe Verdi

Die Oper Frankfurt befindet sich in den Flitterwochen mit ihrem neuen Generalmusikdirektor Thomas Guggeis. Die Intendanz hat ihm zu Beginn der Spielzeit den roten Teppich ausgerollt und mit zwei Filetstücken des Repertoires, „Figaros Hochzeit“ in einer Neuproduktion und „Don Carlo“ in einer Wiederaufnahme, die Möglichkeit verschafft, seine Visitenkarte abzugeben. Der junge Dirigent hat diese Möglichkeit zu einem fulminanten Einstand genutzt. Das Publikum zeigt sich hingerissen, und das Orchester spielt, als wenn es um sein Leben ginge. Das zeigt sich besonders in der Wiederaufnahme des „Don Carlo“. Die Musiker scheinen gleichsam auf der Stuhlkante zu sitzen. Da gibt es keine Routine, keine dahingespielten Phrasen. Man reibt sich die Ohren, was es da insbesondere bei den Holzbläsern alles zu entdecken gibt. So präzise und organisch zugleich, so ausdifferenziert farbig hat man das in Frankfurt bei den letzten Wiederaufnahmen nicht gehört.

© Barbara Aumüller

Dazu hat man Thomas Guggeis eine Spitzenbesetzung bis in die kleinste Nebenrolle hinein gegönnt. Andreas Bauer Kanabas brilliert mit seinem in Frankfurt bewährten und international begehrten König Filippo. Allein schon habituell dominiert er jede Szene mit schierer physischer Präsenz. Sein Filippo ist ein kalter, brutaler Machtmensch, der sein Gefolge bereits durch seine Anwesenheit einschüchtert. Dies beglaubigt er mit seinem machtvollen Baßbariton, dem er in „Sie hat mich nie geliebt“ auch ergreifend melancholische Töne ohne Sentimentalität abgewinnen kann. Ebenso ideal besetzt ist der Rodrigo mit Domen Križaj, der mit kernig-viriler Stimme seinem König Paroli zu bieten weiß. Zusammen mit dem angemessen schwarzen und autoritären Baß von Simon Lim als Großinquisitor und dem sonoren Thomas Faulkner als Mönch ist eine Gala der tiefen Männerstimmen zu erleben.

Domen Križaj (Rodrigo, Marquis von Posa; kniend) und Andreas Bauer Kanabas (Philipp II.) / © Barbara Aumüller

Das neue Ensemblemitglied Magdalena Hinterdobler debütiert als Elisabetta. Im ersten Akt scheint sie sich noch ein wenig vorzutasten, räumt aber dann mit der großen Arie im Schlußakt ab. Hier schöpft sie das Potential ihres vollmundigen Soprans aus, der über eine große Spannweite verfügt, mit der sie in dramatischer Emphase den Zuschauerraum ausfüllen kann, den sie aber auch zu einem gut kontrollierten, feinen, aber immer klangvollen Piano zurückzunehmen versteht.

Es sagt alles über die Qualität des Frankfurter Ensembles, wenn man feststellt, daß die beiden Gastsänger mit den großartigen Leistungen der Stammkräfte mithalten können. Otar Jorjikia zeigt in der Titelpartie alle Qualitäten eines guten Verdi-Tenors: eine in allen Lagen gut durchgeformte, kraftvolle Stimme, die bis zum Schluß ohne Ermüdungserscheinungen bleibt. Bei Dshamilja Kaiser als Eboli erweist sich wieder, daß es nur wenige Sängerinnen gibt, die zugleich die mühelose Leichtigkeit für die virtuosen Arabesken im Schleierlied und die dramatische Glut in „O don fatale“ verfügen. Die Gastsängerin schlägt sich bei ersterem ordentlich in den Koloraturen, muß sich für das Attackieren von exponierten Spitzentönen ein wenig anstrengen, räumt aber schließlich bei letzterem mit großer Emphase ab.

Magdalena Hinterdobler (Elisabeth von Valois) und Otar Jorjikia (Don Carlo) / © Barbara Aumüller

Großartig sind auch die Nebenrollen besetzt. Bianca Andrew hat sich spätestens mit der Hauptpartie in der Uraufführung von „Blühen“ in die erste Reihe des Frankfurter Ensembles gesungen. Für den Tebaldo verfügt ihr Mezzo neben einem attraktiven Timbre über genügend Substanz und Volumen, um etwa im Duett mit Dshamilja Kaiser auf Augenhöhe zu bestehen, und trotzdem über die rollengerechte Leichtigkeit und Biegsamkeit. Für die wenigen Töne der „Stimme von oben“ bietet man mit Kateryna Kasper eine Luxusbesetzung auf, die mit glockenhellen Kantilenen überzeugt. Kudaibergen Abildin schließlich erfreut als Lerma und Herold mit seinem jugendlich-frischen Tenor.

Szenisch ist diese Produktion ein Friedensangebot an konservative Operngänger. Man sieht keine moderne Alltagskleidung, sondern taucht in die Epoche ein, in der das Libretto die Handlung verortet. Es wird nichts „gedeutet“, sondern einfach nur geradlinig eine Geschichte erzählt. Die Kostümbildner haben wahre Wunderwerke bei der Rekonstruktion der spanischen Hoftracht im 16. Jahrhundert vollbracht. Historisch korrekt herrscht die Farbe Schwarz vor. Hochgeschlossen und steif ist die Kleidung, die Granden des spanischen Hofes tragen Halskrause, für Farbtupfer sorgen die Roben der Damen. Der König trägt zum Staatsakt eine Krone, die aussieht wie eine Krone und nicht wie eine Bastelarbeit aus dem Kindergarten, wie das in anderen Inszenierungen zum stereotypen Verfremdungsklischee geworden ist. Das Bühnenbild zeigt strenges Ziegelmauerwerk und zitiert den Escorial, den steinernen Klosterpalast, den Philipp II. errichten ließ.

Dshamilja Kaiser (Prinzessin Eboli) und Bianca Andrew (Tebaldo) sowie Damenchor und Kinderstatisterie / © Barbara Aumüller

Gegeben wird die fünfaktige italienische Fassung, die es durch den vorgeschalteten Fontainebleau-Akt besser als die immer noch verbreitete vieraktige Fassung vermag, die tragische Beziehungskonstellation der Hauptfiguren plausibel zu machen. Regisseur David McVicar nutzt die unwirtliche Strenge des Bühnenbilds, um mit den historischen Kostümen die zeremonielle Steifheit am Hofe des spanischen Königs plastisch zu machen. In diesem steingewordenen Symbol kalter Macht sieht man die Hauptfiguren geradezu seelisch erfrieren. Das betrifft zuerst den König selbst, dem sein eigener Palast zum Käfig wird, dessen Sohn Carlo sich gegen ihn wendet, dessen aus Staatsräson eingegangene Ehe mit Elisabeth, die doch seinem Sohn versprochen war, freudlos bleibt und der vor der Macht der Kirche wortwörtlich zu Kreuze kriechen muß.

In Massenszenen werden Chor und Statisten zu ansehnlichen Tableaux vivants arrangiert. Eine besonders wichtige Rolle spielt die Lichtregie (Joachim Klein). Die subtil eingesetzte Beleuchtung sorgt mitunter dafür, daß man den Eindruck hat, patinierte Ölgemälde seien lebendig geworden. Das alles ist visuell derart beeindruckend, daß die souverän und plausibel arrangierte, aber vollständig konventionelle Personenregie kaum je den Eindruck reaktionärer Verstaubtheit macht.

So beschert der Honeymoon des neuen Generalmusikdirektors mit dem „Opernhaus des Jahres“ einem begeisterten Publikum Repertoirepflege auf Spitzenniveau: Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.

Michael Demel, 11. Oktober 2023


Don Carlo
Oper in fünf Akten von Giuseppe Verdi

Oper Frankfurt

Wiederaufnahme am 7. Oktober 2023
Premiere am 30. September 2007

Inszenierung: David McVicar
Musikalische Leitung: Thomas Guggeis
Frankfurter Opern- und Museumsorchester

Weitere Vorstellungen am 13., 22., 27. und 29. Oktober sowie am 4. November 2023.