Frankfurt: „Daphne“, Richard Strauss

Unsere Kritik zur letzten Wiederaufnahme der Frankfurter Daphne hatte die Überschrift „Scheiden tut weh“. Das war im Februar 2019, und damals hatte die Oper Frankfurt die Absetzung dieser geradezu epochalen Produktion angekündigt. Umso größer war die Freude, daß nun für die neue Spielzeit doch noch einmal eine neue Aufführungsserie angesetzt worden ist. Nach Neuproduktionen in Berlin und Wien in der jüngeren Vergangenheit ist umso deutlicher geworden: Regisseur Claus Guth hat im Jahr 2010 mit seiner Deutung von Richard Strauss‘ szenisch sperrigem Mythologiedrama Interpretationsgeschichte geschrieben. Man kann sich die Daphne eigentlich gar nicht mehr anders vorstellen.

Das betuliche und sprachlich hölzerne Libretto von Joseph Gregor mit seiner stellenweise schwülstigen Ausbreitung eines Motivs aus Ovids Metamorphosen erhält in der Frankfurter Inszenierung eine visuelle Überschreibung, der das Kunststück gelingt, im völligen Einklang mit der Musik einen psychologisch plausiblen und emotional berührenden Handlungsverlauf zu präsentieren. Im Original ergeht sich die Titelfigur in Naturschwärmerei und entzieht sich sowohl dem Werben ihres Gefährten aus Kinderzeiten, Leukippos, als auch dem des Gottes Apollo. Während eines brünstig-deftigen Fruchtbarkeitsfests zu Ehren des Gottes Dionysos kommt es zum Eklat zwischen den um die Gunst Daphnes rivalisierenden Männern, in dessen Folge Apollo Leukippos tötet. Daphne zieht sich zurück und verwandelt sich in einen Baum. Claus Guth nun erzählt das Stück als rückblickende Erinnerung der gealterten Daphne. Diese stumme Rolle, die seit der Premiere in großer Eindringlichkeit von der Schauspielerin Corinna Schnabel gegeben wird, besucht einen Schauplatz ihrer Jugend.

© Barbara Aumüller

Christian Schmidt hat dafür ein aufwendiges, dreiteiliges Bühnenbild geschaffen, dessen Mitte eine Art Versammlungssaal bildet, an dessen linker Seite ein Vorraum mit in die Wand eingelassenen Spinden und zur Rechten ein Schulraum mit Vitrinen grenzen. Die Frankfurter Drehbühne ermöglicht geschmeidige Szenenwechsel innerhalb dieser monumentalen Raumskulptur. Offenbar ist das Gebäude schon seit Jahren aufgegeben worden, denn das Glas einiger Vitrinen ist zerbrochen und auf der Treppe zum Hauptsaal haben sich wildwachsende Pflanzen ausgebreitet. Zu den Klängen des Vorspiels tastet sich die alte Frau durch diese verwitterte Ruine. Als die Stimmung der Musik sich verdüstert, erschrickt sie. Erinnerungen kommen auf. Und nun erlebt das Publikum mit ihr im Rückblick Schlüsselszenen ihrer Jugend. Allmählich wird klar, daß Daphnes Abwendung von den sie begehrenden Männern und der Wunsch, mit der Natur eins zu werden, eine Flucht in ihr Inneres als Folge von sexuellem Mißbrauch ist.

Dabei geht Regisseur Guth sehr subtil vor, deutet vieles nur an und vermeidet bei diesem heiklen Versuch einer tiefenpsychologischen Deutung jede platte und überdeutliche Visualisierung von sexuellen Übergriffen. Vieles spielt sich lediglich in Mimik und Gestik der Protagonistin ab. Maria Bengtsson, die Daphne der Premiere und auch des aktuellen Wiederaufnahmezyklus, hat hier ein tief bewegendes Porträt einer verletzten Seele erarbeitet, welches sie aktuell in ungebrochener Eindringlichkeit präsentiert. Auch ihre Stimme scheint in den vergangenen dreizehn Jahren nicht gealtert zu sein. Man kann von einer idealtypischen Strauss-Stimme sprechen, wie sie nur wenigen Sängerinnen zur Verfügung steht. Noblesse und Innigkeit zeichnen ihren Gesang aus. Schon in dem ersten „Oh, bleibe noch, geliebter Tag“ gelingt ihr ein Sehnsuchtston, der ganz ohne Pathos auskommt. Sie versteht es, große Bögen zu spannen, in denen ihre Stimme leuchtend aufblüht.

© Barbara Aumüller

In der besuchten dritten Vorstellung der Wiederaufnahmeserie hatte es sich zudem ergeben, daß auch ein idealtypischer Leukippos zum Einsatz kam. Das neue Ensemblemitglied Magnus Dietrich kam als Einspringer zu seinem unverhofften Hausdebüt mit nur wenigen Stunden Vorbereitungszeit und landete mehr als nur einen Achtungserfolg. Er glänzte mit jugendlich-frischem Tenor bei obendrein vorzüglicher Diktion und fügte sich zudem wie selbstverständlich in die szenischen Abläufe ein. Hier hat die Oper Frankfurt ein großes Talent verpflichtet.

Ensemblemitglied Peter Marsh hatte sich schon in der vorletzten Wiederaufnahme an der Heldentenor-Partie des Apollo versucht, die für ihn seinerzeit eine merkbare Überschreitung der Grenzen seines Stimmfaches darstellte. Nun wagt er sich erneut an diese Rolle, die man als einen triftigen Beleg dafür anführen kann, daß Strauss Tenöre nicht leiden konnte und sie mit unbequem gesetzter Stimmführung systematisch überforderte. Umso bemerkenswerter ist es, wie Marsh nun seiner hellen, kopfresonanzreichen Stimme heldisches Strahlen abgewinnt und die eigentlich unzumutbaren Spitzentöne mit unerschrockener Sicherheit präsentiert. Ja, man hat den Eindruck, daß gerade diese Höhenlage ihm besonders liegt.

© Barbara Aumüller

Katharina Magiera ist neu als Gäa besetzt, verleiht ihrer Figur mit ihrem klanggesättigten Mezzo sonore Würde, muß aber wie manche Rollenvorgängerin mit einigen abgründig tiefen Tönen kämpfen. Als Peneios ist Patrick Zielke seit der letzten Wiederaufnahmeserie weiter gereift und überzeugt mit seinem gut geführten, prächtigen Baßmaterial. Die zahlreichen Nebenrollen sind aus dem Ensemble wie gewohnt ausgezeichnet besetzt.

Lothar Koenigs entfaltet mit dem vorzüglichen Orchester einen kulinarischen Klangrausch, an dem man sich nicht satthören kann. Schon die einleitende Holzbläserpassage ist von erlesener Delikatesse. Die Streicher fluten den Saal mit üppigem Wohlklang. Dabei sind aber auch die Vorzüge des vom vormaligen Generalmusikdirektor Sebastian Weigle geformten typischen Frankfurter Strauss-Sounds präsent: plastisch, farblich differenziert und mit klar konturierter Herausarbeitung des Motivgeflechts.

Nun soll diese Wiederaufnahme (erneut) die unwiderruflich letzte sein. Sie hätte eine weitaus bessere Auslastung verdient. Aktuell dürfte es nirgends eine intelligentere, spannendere, sensiblere und attraktiver ausgestattete Inszenierung dieser Oper geben, die zudem mit einem Orchester in Hochform und einer ideal besetzten Titelpartie aufwarten kann. Nur noch am 30. September und am 3. Oktober ist diese Maßstäbe setzende Produktion zu erleben. Der Besuch wird dringend empfohlen.

Michael Demel, 25. September 2023


Daphne
Bukolische Tragödie in einem Aufzug von Richard Strauss

Oper Frankfurt

Aufführung am 24. September 2023
Premiere am 28. März 2010

Inszenierung: Claus Guth
Musikalische Leitung: Lothar Koenigs
Frankfurter Opern- und Museumsorchester