Sowohl Béla Bartók in seinem zweiten Violinkonzert als auch Carl Nielsen in seiner fünften Sinfonie haben in frappierender Weise mit stellenweise fast nicht auszuhaltendem Aufbau von spannungsgeladener Stimmung komponiert. Die freischwebende Tonalität und die Polytonalität, welche diese beiden Komponisten angewandt hatten (beide Werke entstanden in den Zwischenkriegsjahren im Abstand von 15 Jahren), begünstigen diese Atmosphäre des Unheimlichen, des Geheimnisvollen – mit diesem Klang in der Schwebe sind sie (gleich wie Alfred Hitchcock im Filmgenre) „Masters of Suspense“.
Bartóks zweites Violinkonzert eröffnet mit einer ungewohnt zarten Phrase, einem Dialog der Harfe mit der Solovioline. Vilde Frang intoniert das mit berückender Schönheit, führt ihr kostbares Instrument (eine Violine von 1734 von Guarneri del Gesù) in lichte, zart gespielte Höhen und abgründige, diabolische Tiefen. Gerade im ersten Satz gibt’s ganz viele Passagen, in denen sie mit zartem Bogenstrich die Kantilenen weich singend ausbreitet, die von fragiler Schönheit geprägt sind. Oftmals mündet diese schon fast verklärte Schönheit in irrwitzige Läufe, schräg klingende Glissandi oder auch in fahle, motorisch brummende Klänge, aus denen die atemberaubende Kadenz mit ihren Vierteltonschritten aufsteigt.
Das Andante tranquillo des zweiten Satzes ist wohl etwas vom Schönsten, das Bartók komponiert hatte. Wie das liedhafte Hauptthema der Violine variiert wird, mit spannenden Klangkombinationen – wie dem zauberhaften Klang der Celesta – kontrastiert, ist schlicht meisterhaft. Das Tonhalle-Orchester Zürich unter der Leitung von Paavo Järvi evoziert diese stimmungsvolle, von Zartheit erfüllte Atmosphäre, mit überwältigender Klangschönheit. Man schwebt regelrecht in einer klanglichen Traumlandschaft, aus der man mit den rasanten Tanzrhythmen des dritten Satzes gerissen wird. Aufgewühlte Wildheit, in die sich nur wenige verträumte Passagen einschleichen, leiten unter der Führung der von Vilde Frang virtuos gespielten Solovioline zum rasend flirrenden Orchestertutti. Großer, begeisterter und verdienter Applaus für die Musiker des Tonhalle-Orchesters Zürich, seinen Chefdirigenten Paavo Järvi und natürlich für die Geigerin Vilde Frang!
Nach der Pause folgte dann die fünfte Sinfonie des hierzulande immer noch unterschätzten dänischen Komponisten Carl Nielsen, der einer in seiner Modernität – gerade in seinen Sinfonien – wegweisenden Komponisten im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts war. Davon konnte man sich gestern Abend beim Anhören seiner unglaublich wirkungsvollen fünften Sinfonie überzeugen. Was für ein spannungsgeladenes Werk, das im ersten Satz mit dem ausgedehnten Einbezug des Schlagwerks überraschte und mitriss. Nur schon der Beginn mit seinem langen Bratschentremolo, aus dem sich die Kantilene der Fagotte erhob, liess aufhorchen. Man war gefangen in einer elektrisierenden Spannung und spürte (eben wie bei Hitchcock), dass etwas Aufrüttelndes geschehen wird. Und es kam dann in Form von markanten ostinato haften Einwürfen des Holzes und des Schlagwerks (Pauke, Kleine Trommel, Tambourin), steigerte sich in einem unfassbaren Crescendo zu einer umwerfenden Klangballung und verklang mit der sich entfernenden Trommel ganz zart. Während dieses Crescendos, dieses Klangbads sondergleichen, fühlte man sich an Ravels Boléro erinnert, der jedoch erst sechs Jahre nach der Sinfonie Nielsens entstanden war! Der zweite Satz war dann von einer pulsierenden Unruhe geprägt: Rasante Passagen der Streicher, unterbrochen von destruktiv dreinfahrenden Pauken, verbreiteten eine unheimliche Stimmung. Fugierte Formen und liedhafte Kantilenen der Celli wurden unterbrochen von Orchestereinwürfen, die wie Peitschenhiebe klangen. Die gewaltige Sinfonie schloss mit einer strahlenden Coda. Paavo Järvi und das so unglaublich intensiv und klanglich austarierte spielende Tonhalle-Orchester Zürich ließen diese Sinfonie zum Erlebnis werden. Hoffentlich werden wir in Zukunft vermehrt Werke dieses außergewöhnlichen Komponisten in Zürich erleben dürfen!
Das Konzert wurde mit Beethovens Leonoren-Ouvertüre Nr. 3 eröffnet. Irgendwie passte sie nicht zu den beiden anderen Werken. Im Gegensatz zu Bartóks Violinkonzert und Nielsens Sinfonie, die beide der absoluten Musik verpflichtet sind, weist Beethovens Ouvertüre ein genau auf die Handlung der Oper Fidelio fixiertes Programm auf. In der Groß Besetzung des Tonhalle-Orchesters wirkte sie für mich zu wuchtig, erreichte im Jubelschluss am Ende fast die Ausmaße einer brucknerschen Apotheose. Effektvoll, klar. Aber persönlich hätte ich mir ein weiteres Werk aus der hochinteressanten Musikszene der Zwischenkriegszeit gewünscht, eben jenseits der ausgetretenen Pfade: Korngold, Schreker, Krenek u.v.a.m. böten sich an.
Nichtsdestotrotz durfte man einen spannungsgeladenen Konzertabend erleben, mit zwei wichtigen Kompositionen, denen man – leider – nicht allzu oft in den Konzertsälen begegnet.
Kaspar Sannemann 9. Februar 2024
Tonhallenkonzert
Zürich: 7., 8. und 9.2.2024
Ludwig van Beethoven: Ouvertüre «Leonore» Nr. 3 C-Dur op. 72a
Béla Bartók: Violinkonzert Nr. 2, Sz112
Carl Nielsen: Sinfonie Nr. 5 op. 50
Vilde Frang
Paavo Järvi
Tonhalle-Orchester Zürich