Wiesbaden: „Der Freischütz“, Carl Maria von Weber

Beinahe wäre diese Produktion den Wirren um das Ende der Intendanz Laufenberg zum Opfer gefallen. Sie stand auf der Streichliste des mit dem Intendanten verfeindeten Geschäftsführers, blieb dann aber zu guter Letzt von einer Absetzung verschont. Das ist ein Glück, denn man bekommt im Freischütz nicht alle Tage eine derart stimmige Besetzung geboten. So zeigt Thomas Blondelle als Max erneut seine Wandlungsfähigkeit. In der Ära Laufenberg war er in Wiesbaden ein viel beschäftigter Gast, der von seinem Maßstäbe setzenden Loge im Rheingold über Partien von Mozart und Strauss bis hin zur Operette eine staunenswerte Bandbreite präsentierte. Bei Webers gebrochenem Helden setzt er seinen baritonal grundierten Tenor wirkungsvoll ein, präsentiert wenn nötig heldenhafte Kraft in der Höhe und bewahrt sich bei alledem die exzellente Textverständlichkeit eines Liedsängers. Darstellerisch ist er wie gewohnt sehr intensiv, ja expressiv bis an die Grenze zum Overacting. In den Sprechszenen bewältigt er als einziger der Protagonisten den deutschen Text idiomatisch. Das Radebrechen der übrigen Besetzung dabei fällt aber angesichts deren musikalischer Qualität kaum ins Gewicht. So hat Alyona Rostovskaya als Agathe die angemessene lyrisch-dramatische Anlage für die Partie, kann aber ihre Stimme auch „leise, leise, fromme Weise“ zu einer behutsamen Innigkeit zurücknehmen. Im Kontrast zu ihr spielt Anastasiya Taratorkina ihren quecksilbrigen Soubretten-Sopran als Ännchen lebendig aus. Über eine Kaspar-Stimme wie aus dem Bilderbuch verfügt Dimitry Ivashchenko, viril, doch geschmeidig genug auch für Koloraturen, mit saftiger Fülle und angemessener Schwärze.

© Lena Obst

Das Orchester unter der Leitung von Johannes Klumpp begleitet diese starke Besetzung flexibel und mit großer Frische. Schon bei der dankenswerterweise nicht bebilderten Ouvertüre kann man ahnen, daß es musikalisch ein erfreulicher Abend werden wird. Alle Gruppen zeigen sich in guter Form, von den präsenten Streichern über die farbigen Holzbläser bis zu den stark geforderten Hörnern. Klumpp vermeidet hier jede Tümelei, läßt keinen Nebel wabern, sondern musiziert herzhaft die Kontraste aus. Auch der Chor zeigt sich in guter Form und trumpft in seinen zahlreichen Einsätzen machtvoll auf.

Wenn sich der Vorhang hebt, sieht man ein Tableau vivant: Kilian (Erik Biegel mit hellem Spieltenor) hat inmitten der Dorfgesellschaft das Gewehr im Anschlag. Den Horizont säumt ein Tannenwald, der aussieht, als habe man ein Gemälde von Caspar David Friedrich als Aquarell nachgeahmt und dann auf den Kopf gestellt. Stefan Heyne hat hinter diesem geschickt verfremdeten Zitat die Bühne mit allerlei Holzmöbeln vollgerümpelt, zwischen denen Tannenbäume aufgestellt sind. Die Kostüme von Tanja Liebermann orientieren sich weniger am Biedermeier der Entstehungszeit, auch nicht an der erzählten Zeit, also dem 17. Jahrhundert nach Ende des Dreißigjährigen Krieges, sondern eher an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Einige Chormitglieder tragen Gaze-Masken vor ihren Gesichtern, skurrile Figuren wie ein angeschmuddelter Harlekin haben sich zwischen die Dorfgesellschaft gemischt. Es gibt Kostüme, die an heidnische Schamanen erinnern und so auf eine vorchristliche Schicht der Gruselgeschichte verweisen. Über allem schwebt ein riesenhafter Mond-Globus, der wechselhaft angeleuchtet wird. Aus dieser leicht surrealen Szenerie zieht die Regie von Clemens Bechtel allerdings kaum Konsequenzen. Sie erzählt vielmehr recht geradlinig die Original-Geschichte, was dank des schauspielerischen Engagements der Darsteller gut funktioniert.

Alyona Rostovskaya (Agathe) / © Lena Obst

Hie und da blitzen Ansätze von Regieideen auf, die nicht unplausibel sind, aber zu keinem Gesamtkonzept ausgearbeitet werden. So offenbart Agathe im ersten Aufzug an Beinen, Schultern und Armen gewaltige Hämatome, so als sei sie übel verprügelt worden. Das mag man als Hinweis auf die gewaltbegleitete Unterdrückung von Frauen in der dargestellten Gesellschaft interpretieren. Folgen für den weiteren Verlauf hat es nicht.

Die Wolfsschluchszene gelingt recht ansehnlich mit Videoprojektionen von Wildtieren, deren Schnitt und Bewegungsdynamik der sich immer weiter an Intensität steigernden Musik gut angepaßt sind. Die sieben Kugeln werden tatsächlich über offenem Feuer gegossen, was einigen Effekt macht. Hier wie insgesamt zeigt die Produktion eine große Treue zum Text, meidet platte „Aktualisierungen“ und entwickelt die inhärenten Motive, die Enge einer verkrusteten Dorfgesellschaft, die Zwänge der Feudalherrschaft, hohle Männlichkeitsrituale und die Unterdrückung von Frauen, durch Akzentuierungen innerhalb einer Erzählhaltung, welche die vorgegebene Handlung intakt läßt.

Dimitry Ivashchenko (Kaspar) / © Lena Obst

Im zweiten Teil nach der Pause zeigt das Bühnenbild nun einen winterlichen Tannenwald, dessen Bäume in Schwarz-Weiß-Optik vor im Übrigen hellem Hintergrund erscheinen. Hier meint man zu erkennen, was der Regisseur im Programmheft beklagt, daß nämlich angesichts der Unsicherheit über die mögliche Streichung der Produktion das Bühnenbild nicht mehr in der Form erstellt werden konnte, wie es das Inszenierungsteam ursprünglich entworfen hatte. Der Darstellung tut dies keinen Abbruch. Wie zuvor erzählt Bechtel plausibel die Geschichte weiter und zeigt am Schluß, daß es für Max und Agathe innerhalb der Zwänge einer feudalen Gesellschaft kein wirkliches Happy End geben kann.

Thomas Blondelle (Max) / © Lena Obst

Ob diese Inszenierung bei Realisierung des ursprünglichen Bühnenbildes und größerer Absicherung während des Probenprozesses zu einem stärker sichtbaren Überbau gefunden hätte, mag dahinstehen. Womöglich wären Andeutungen von Traumszenen deutlicher ausgearbeitet worden, das Motiv der gewaltsamen Unterdrückung von Frauen in einer patriarchalischen Feudalgesellschaft kräftiger akzentuiert worden. Die nun gezeigten Interpretationsansätze drängen sich nicht in den Vordergrund und wirken wie Kommentare zur handwerklich souverän präsentierten Handlung. So kommt es, daß in den kräftigen Schlußapplaus das Produktionsteam in ungebrochener Zustimmung mit einbezogen wird. Diese musikalische starke und szenische ansehnliche Produktion läßt Webers Klassiker in günstigem Licht erscheinen.

Michael Demel, 23. März 2024


Der Freischütz
Romantische Oper in drei Aufzügen von Carl Maria von Weber

Staatstheater Wiesbaden

Premiere am 17. März 2024

Inszenierung: Clemens Bechtel
Musikalische Leitung: Johannes Klumpp
Hessisches Staatsorchester Wiesbaden

Trailer