Berlin: „Overture/Angels’Atlas“, Marcos Morau/Crystal Pite

Großer Beliebtheit beim Publikum erfreuen sich mehrteilige Ballettabende wegen ihrer Vielfalt und der unterschiedlichen choreografischen Handschriften. Davon zeugte auch die Neuproduktion des Staatsballetts, deren Premiere am 28. April 2024 mit Jubelstürmen aufgenommen wurde. Der erste Teil präsentiert sogar eine Uraufführung – Overture des spanischen Künstlers Marcos Morau, der seit dieser Saison auch als Artist in Residence bei der Berliner Compagnie fungiert.

© Serghei Gherciu

Als musikalische Folie dienen drei Sätze aus Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 5, die von der Staatskapelle Berlin unter Marius Stravinsky live gespielt werden. Das Stück beginnt rätselhaft zum Trauermarsch, wenn eine halbnackte Menschengruppe sich verzweifelt an ein Objekt klammert und versucht, es in Besitz zu nehmen (Bühne: Max Glaenzel). Unwillkürlich denkt man an ein Boot im Mittelmeer, in dem Flüchtlinge Zuflucht suchen und das nicht Platz für alle Menschen bietet. Zu den schmerzhaften Aufschreien der Musik korrespondieren die Bewegungen der Tänzer mit ihren zuckenden, zitternden, sich aufbäumenden, hinstürzenden Körpern. Morau gelingen bildgewaltige Welten aus wogenden Körperlandschaften. Und wieder ist man überwältigt von der mirakulösen Synchronität der Tänzerinnen und Tänzer. Erst später erkennt man im diffusen Licht (Marc Salicrú), dass es sich um eine umgestürzte Tempelsäule handelt, welche die Gruppe mühsam und mit vereinten Kräften aufrichtet. Aus dem Schnürboden fahren danach noch weitere fünf Säulen herab, womit der 4. Satz der Sinfonie, das berühmte Adagietto, beginnt. In folkloristisch anmutenden Kostümen (Silvia Delagneau) aus violetten Röcken und bestickten grünen Westen vollführen die Tänzer in diesem Tempel-Wald oder -Labyrinth unter Kichern und Lachen ein heiteres Versteck- und Verfolgungsspiel, was zur Musik doch einen seltsamen Kontrast darstellt. Im letzten Satz (Rondo-Finale) vollendet sich das Wechselspiel von Leben und Vergehen. Shaked Heller und Achille De Groeve ragen hier mit solistischen Auftritten aus der Gruppe heraus.

© Serghei Gherciu

Den zweiten Teil des Programms bestreitet die kanadische Choreografin Crystal Pite mit ihrer Arbeit Angels´ Atlas, die 2020 beim National Ballet of Canada zur Premiere kam. Hier wird die sphärisch anmutende Musik – eine Collage aus Kompositionen von Owen Belton, Morten Lauridsen und Peter Tschaikowsky – vom Band eingespielt. Die Bühne von Jay Gower Taylor wird bestimmt von seinem Reflective Light Backdrop Concept und Design, einem faszinierenden magischen Lichtspiel aus Wolkenfetzen, Kristallen, Funken und Schleiern. Die Choreografie kombiniert Moderne und Neoklassik. Letztere zeigt sich vor allem in den lyrischen Pas de deux der drei Paare in geschlitzten schwarzen Röcken (Nancy Bryant), welche auch Hebefiguren und kraftvolle Sprünge zeigen. Hier bestechen Danielle Muir/Jan Casier, Meiri Maeda/Loïck Pireaux und Emma Antrobus/Achille De Groeve. Inden großen Massenszenen ist wiederum die Perfektion der Gruppe zu bewundern. Der vom Premierenpublikum gefeierte Abend fügt sich perfekt in die Erfolgsbilanz des neuen Ballettintendanten Christian Spuck ein.

Bernd Hoppe, 1. Mai 2024


Overture/Angels‘ Atlas
Gustav Mahler/Owen Belton

Berlin, Staatsoper

Premiere am 28. April 2024

Choreografien: Marcos Morau/Crystal Pite
Musikalische Leitung: Marius Stravinsky
Staatskapelle Berlin