Münster: „Doktor Ox“, Jacques Offenbach

Als eine seiner phantastischen Zukunftsvisionen veröffentlichte Jules Verne 1872 eine Erzählung „Une fantaisie du docteur Ox“. In einem Experiment infiltriert dieser Doktor Ox zusammen mit seinem Gehilfen Ygène (ergibt Oxygène für Sauerstoff) ein Gas in die verschlafene Kleinstadt Quiquendonne. Das verursacht bei der Bevölkerung jegliche Art von Raserei. Als zum Schluß das Labor, in dem das Gas hergestellt wurde, explodiert, werden alle wieder so verschlafen wie vorher.

© Martina Pipprich

Nach diesem Stoff komponierte Jacques Offenbach auf ein Libretto von A. Mortier und P. Gilles eine 1877 uraufgeführte „opéra bouffe“ in drei Akten und sechs Bildern. Der Handlung fügen sie als Liebesgeschichte hinzu, dass eine Frau offenbar exotischer Herkunft namens Prascovia Doktor Ox bis zum Schluß mit Einlösung eines früheren Heiratsversprechens bedrängt.

In einer musikalischen Bearbeitung der Komponisten Werner Haentjes und Wolfgang Böhmer unter der musikalischen Leitung von Thorsten Schmid-Kapfenburg hatte unter der Bezeichnung „fantastische Operette“ der „Doktor Ox“ am vergangenen Samstag Premiere am Theater Münster. Deutsche Übertitel, darunter auch ironische Kommentierungen der Handlung, stammten von Andre Müller. Die Regisseurin des Abends, Anna Weber, verfasste eine eigene „Spielfassung“, dies vielleicht aus ihrer im Programmheft postulierten Absicht, eine „Operette für alle“ aufzuführen, auch für ein „theaterfernes Publikum“. Ob dazu eine Betrachtung im Programmheft über „die Ataraxie der griechischen Stoa“ paßt, ist fraglich. Dafür hatte sie „viele Sprechdialoge auf musikalische Passagen gesetzt, quasi wie bei einem Melodram“ –  für den Bewunderer der Musik Offenbachs allzu viele.

Das Bühnenbild von Sina Manthey bestand aus einer Art viereckigen Blase mit  etwas elastischem Boden. Die Rückseite war in gepolsterte Vierecke aufgeteilt. Das sollte wohl auch die akustische Abgeschlossenheit der Einwohner von der Außenwelt verdeutlichen. Ganz im Gegensatz war das Labor von Dr. Ox in grellem Grün beleuchtet (Licht Jan Hördemann), zuerst bevölkert von bedrohlich aussehenden fremden Figuren in Raumfahrer-Kostümen. Unter der Decke wurde durch eine Art beleuchteter Drohne die Gaszufuhr geregelt.

© Martina Pipprich

Die Kostüme (Hanna Rode) der Einheimischen bestanden aus grauem Schlabberlook und hohen Kopfbedeckungen. Doktor Ox und Assistent Ygen waren als Pseudo-Wissenschaftler in dem grellen Grün des Labors übertrieben medizinisch gekleidet. Prascovia drang in diese Welt ein mit einer Gruppe von Darstellern, die als Musikinstrumente kostümiert waren, als Bratsche, E-Gitarre, Klarinette, Cello, auch gewaltige Tuba und Kontrabass. Ihr Anführer Shavoura (Frank Göbel) fiel zunächst dadurch auf, dass er alle möglichen Gifte als Leckerbissen verzehrte. Diese sogenannten „Träumer“ benutzten für ihre Auftritte auch einen Steg vor dem Orchestergraben – langjährige Opernbesucher erinnerte das an die legendäre Aufführung des „Ring des Nibelungen“

In diesem Rahmen wurde die Handlung unterhaltsam aufgeführt. Beginnend schon vor der eigentlichen Vorstellung zeigte der erste Akt das spießbürgerlich-ruhige Leben dadurch, dass alle Anwesenden sich auf der Bühne ganz behäbig bewegten und ganz langsam sprachen, bei den Gesangsnummern ging es etwas lebhafter zu. Eine Schachpartie dauerte so z.B. mehrere Jahre. Nur die Hausangestellte Lotsche verhielt sich normal (darstellerisch und stimmlich während der ganzen Aufführung großartig Luise von Stein). Allerdings fürchtete der Bürgermeister van Tricasse (Christian Bo Salle in einer Sprechrolle) um die Wettbewerbsfähigkeit von Quiquendonne und hatte deshalb dem berühmten Wissenschaftler Doktor Ox die Hand seiner Tochter Suzel (Katharina Sahmland) versprochen, wenn dieser durch Verwendung eines speziellen Gases den Einwohnern etwas mehr geschäftliche Initiative verschaffte. Ein erstes Experiment mit dem Gas zeigte aber nur Wirkung dadurch, dass bisher unbekannte Triebhaftigkeit die Einwohner befiel. Herr van Tricasse etwa suchte sein Glück bei der Dienstmagd Lotsche, und Frau van Tricasse  (Barbara Bräckelmann mit heller Sopranstimme) ließ sich vom Hausfreund Niclause umarmen.

Im zweiten und der ersten Hälfte des dritten Aktes zeigte sich nun die chaotische Wirkung der zweiten, größeren Dosis des Gases. Alle Bewohnerinnen und Bewohner praktizierten und verherrlichten freie Liebe und das Schlemmen von edlen alkoholischen Getränken und delikaten Speisen – letztere waren auch auf dem Steg vor dem Orchestergraben zu sehen. Gleichzeitig schaffte es Ox durch Tricks wie Kleiderwechsel mit einem sogenannten „Präsidenten“ den Nachstellungen von Prascovia zu entkommen.

In der zweiten Hälfte des dritten Aktes unterlag dann Doktor Ox selbst der Wirkung seines Gases und entdeckte wieder seine frühere Liebe zu Prascovia.

Gleichzeitig mußten die Stadtoberen feststellen, dass das Gas nicht die Wirtschaft angekurbelt hatte, sondern als Folge des hemmungslosen Lebensgenusses der Einwohner die Stadt in den Bankrott führte. Nur Frauen, Wirte und Musiker  hatten profitiert, wie diese durch Anhäufung von Dollar-Münzen zeigten. Deshalb wurde ein Ende der Gaszufuhr gefordert. Da im Liebestaumel Ox der Prascovia das notwendige Kennwort verraten hatte, konnte durch eine Explosion die Verbreitung des Gases beendet werden.

© Martina Pipprich

Bei der Besetzung der Hauptpartien war vor allem Judith Gennrich als Prascovia zu bewundern, langjährigen Opernbesuchern noch als Octavian im Rosenkavalier oder betreffend Offenbach als „Périchole“ in bester Erinnerung. Mit ausdrucksvollem Mezzo-Sopran bis hin zu Spitzentönen gestaltete sie Wut, Komik und Liebesverlangen in ihren Soli. Höhepunkte waren ihre Duette mit Ox (Garrie Davislim mit kräftigem, wenn nötig auch lyrischem Tenor), einmal, als sie beide verkleidet als Präsident und Putzfrau sich unerkannt Liebe gestanden, und beim grossen Schlußduett. Schauspielerisches Talent und tenorale Kunstfertigkeit zeigte auch Ludwig Obst als Ox’ Assistent Ygen. Als Niclause hatte Gregor Dalal schauspielerisch und gesanglich eine grandiose Szene, als er bedauerte oder auch nicht bedauerte, als Wirkung des Gases Frau van Tricasse um die Taille gefaßt zu haben.

Gar nicht genug bewundern konnte man Chor und Extrachor in der Einstudierung von Anton Tremmel. Schwungvoll und präzise sangen sie auf der Bühne, vor der Bühne und seitlich im Zuschauerraum und spielten gekonnt die „hedonistischen“ Szenen. Dazu gehörte auch eine Persiflage des Can-Can.

Monotone Langsamkeit zur Begleitung der spießbürgerlichen Szenen sowie Schwung und Präzision für die Haupthandlung ließ das Sinfonieorchester Münster hören. Das war betreffend Orchester und der großen Zahl von Mitwirkenden der überlegenen musikalischen Leitung von Thorsten Schmid-Kapfenburg zu verdanken.

© Martina Pipprich

Nachdem das Gaslabor explodiert war, sah man zum Schluß dieselben Personen in derselben langsamen  phlegmatischen Bewegung im bekannten Bühnenbild das frühere Leben in Quiquendonne weiterführen. Da blieb für das Publikum die Frage offen, ob überhaupt irgendein Gas Ursache dieses „Sommernachtstraums“ sein konnte oder, wie es in einer nur wenig früher uraufgeführten heiteren Oper heißt, „Ein Glühwurm fand sein Weibchen nicht“.

Wie nach dieser Aufführung zu erwarten gab es langen Applaus und viele Bravos für Sängerinnen und Sänger, vor allem der Hauptpartien, besonders für den Dirigenten, das Orchester und auch für das Leitungsteam.

Sigi Brockmann, 6. Mai 2024


Doktor Ox
Fantastische Operette von Jacques Offenbach

Theater Münster

Premiere am 4. Mai 2024

Inszenierung: Anna Weber
Musikalische Leitung: Thorsten Schmid-Kapfenburg
Sinfonieorchester, Opernchor und Extrachor Münster