Meiningen: „Una cosa rara“, Vicenze Martín y Soler

© Christina Iberl

Wahrscheinlich würde sich kaum einer aus dem Theaterpublikum einen „Lüpertz“ ins Wohnzimmer hängen oder in den Garten stellen. Und so wecken die potthässlichen maskulinen Kolosse, die eingangs der ganzen Bühne einnehmen, bestimmt keine Begehrlichkeiten. Umso erstaunter und berührter wird man sein, wenn sich gleich eine verzauberte Waldkulisse öffnet, vor der sich fortan die Dramödie des Adels und der Bauern abspielen wird. Wie Voyeure, versteckt zwischen den Baumkronen, beobachten und belauschen sie von oben die einfachen Menschen, ein Kitzel im drögen Alltag des höfischen Lebens, um sich im rechten Moment nach unten zu begeben, um bei denen mitzuspielen, die sie in einer heilen Welt inmitten der Natur sahen.

Komponist Martín y Soler, ein Zeitgenosse Mozarts, und Librettist Da Ponte brachten 1786 eine Oper auf die Bühne, die sofort einschlug. Zeitkritische Themen wie Dekadenz und Übergriffigkeit des Adels und das erwachende Selbstbewusstsein der Bürger waren en vogue und Liebe, Eifersucht und komische Verwicklungen gehen immer. Die Musik findet als „Mozart light“ im positiven Sinne ein breites Publikum.

Die Oper wurde bei den Händel Festspielen Halle (1963) zwar nur einmal gezeigt, aber die Festspiele haben die Oper auch in Bad Lauchstätt aufgeführt, und es gab eine Version in Karlsruhe (1996), Frankfurt und Ulm, bis Jens Neundorff von Enzberg sie zusammen mit Regisseur Andreas Baesler und dem bildenden Künstler Markus Lüpertz reanimierte und 2018 mit Erfolg in Regensburg präsentierte.

Das Malerische wird neben dem Geschehen und der Musik zum Thema der Inszenierung. Musik, Bilder und Farben verschmelzen mit Handlung und Figuren und statt barockem Schwulst entsteht mit viel Komik, Groteskem und Skurrilem ein kleines Meisterstück, das in seiner Zeit bleibt und trotz banalem Inhalt sehr sympathisch wirkt.

Im ersten Akt erlegt Isabella, Königin von Spanien, ein kleines Wildschweinchen und lässt sich dafür groß feiern. Auch ihr Sohn Giovanni, optisch eine Miniaturausgabe seiner Mutter, huldigt ihr hündisch und affektiert. Da erscheint Lilla, ein einfaches Bauernmädchen, und bittet um Hilfe, weil ihr Bruder Tita sie mit dem Bürgermeister Lisargo, einem Scheusal, verheiraten will. Sie aber liebt den Schäfer Lubino. Giovanni wittert schon leichte Beute und macht ihr Avancen, vergeblich. Isabella verspricht, sich der Sache anzunehmen und beauftragt den Oberstallmeister Corrado, auf Lilla aufzupassen.

Ein windschiefes Häuschen verändert den Schauplatz. Ghita, die Freundin Lillas, streitet mit ihrem Verlobten Tita. Temperamentvoll, selbstbewusst und frivol ist sie ganz das Gegenteil der anderen. Als Lubino auftaucht, um seine Geliebte zu suchen, eskaliert das Geschehen. Deswegen lässt ihn der Bürgermeister verhaften. Ghita eilt zu Lilla, will ihr helfen, die aber misstraut ihr. Die Königin beobachtet den Disput und macht sich recht augenfällig mit den Mädchen gemein und schlichtet. Auch Lubino trifft auf Isabella, überzeugt sie von seiner Unschuld und Liebe. Trotz Misstrauen und Eifersucht steht der Hochzeit der Paare nichts mehr im Wege. Der erste Akt endet im Jubeltaumel, nur Giovanni und Corrado, der selbst gerne Lillas Geliebter wäre, sind betrübt.

© Christina Iberl

Feuchtfröhlich beginnt der zweite Akt. Ghita versucht Lilla zu überreden, nebenbei doch die Mätresse des Infanten zu werden, was diese entrüstet ablehnt. Sie verurteilt deren Verhalten, die sich dafür noch bezahlen lässt. Isabella hat inzwischen genug von Amt und Pflichten und sehnt sich beim Anblick des Waldes nach einem einfachen Leben: „Warum kann nicht jeder sein Schicksal frei bestimmen?“ Sie entledigt sich der lästigen Robe und zum Vorschein kommen Anmut, Grazie und Natürlichkeit. Auch Giovanni flieht auf seine Weise und steht mit nacktem Oberkörper ohne Perücke klecksend vor einer Staffelei. Rührend schwach jammert er über seine unerwiderte Zuneigung zu Lilla und nochmals versucht er zusammen mit Corrado sein Glück und provoziert damit die Männer. Eifersucht, Unterstellungen und Gewaltandrohung in Dauerschleife. Lubino, der weichere Typ, lässt sich von Lilla beruhigen. Tita, ganz Macho, muss eine Ohrfeige verkraften. Als er bei Ghita Geschenke Giovannis findet, ist das Maß voll. Sofort berichtet er Isabella, was ihr Sohn treibt. Dieser ist feige und Corrado nimmt die Schuld auf sich und wird verbannt. Die Königin geht wieder auf die Jagd – oder in die Freiheit? Die Frauen düpieren den Infanten galant, verabschieden sich mit einem Kastagnettentanz, der Himmel ist blau und der Wald leuchtet in schönsten Farben. Dann fällt am Ende ein Stück der Kulisse um, die Drehbühne zeigt die gänzlich unspektakuläre Rückseite: Schöner Schein – alles Fassade.

Komik und humorvolle Details nehmen dem Stück Ernst und Schwere. Keiner wird gehängt, erstochen oder geköpft. Nur manches Ego bekommt einen Dämpfer oder einen Stups, sein Leben etwas mehr selbst zu bestimmen. Düsternis und Gefahren währen nie lange und werden durch Albernheiten und Gags sofort entschärft. Dabei geht die Regie Andreas Baeslers anerkennenswert wohl dosiert vor, so dass kein billiger Klamauk entsteht. Letztlich erscheinen alle als Karikaturen ihrer selbst und so gelingt ein Spiel mit 100 Anspielungen in einer Märchenwelt voller Farben. Ja, diese Farben, sie sind das eigentliche Herzstück der Inszenierung.

Markus Lüpertz verabscheut den gegenwartskongruenten Tatort-Perfektionismus vieler Bühnen. Er setzt auf Illusion, die dem Zuschauer Raum gibt, seine Phantasie und Gefühle zuzulassen. „Leichtsinnig“ wie im Wandertheater kommt er mit wenigen Elementen aus. Die monumentale, grobe Waldkulisse wirkt zunächst wie ein Rohling der Natur, gewinnt aber durch wechselndes Licht und Farbe an Leben. Es ist seine Vorstellung von Arkadien, dem Sehnsuchtsort von Frieden und Harmonie. Alles ist gemalt, bunt, skurril und überzeichnet und erinnert in seiner Naivität an Kirmes. So denkt man automatisch an eine Schießbude, wenn Wildschweine auf schmalem Laufband vorbeirollen. Flüchtig geben sich Schafe die Ehre und vervollständigen das Idyll. Auch die Kostüme der einzelnen Figuren sind herrlich zusammengewürfelte Gemäldefragmente, nicht perfekt, von grotesk bis witzig und symbolisieren in Form und Farbe die Charaktere. Kein Wunder, dass sich Königin Isabella ihrer steifen Robe entledigt und vermutlich gerne mit den Landmädchen tauschen würde. Während Schwarz den Adel dominiert, tragen Bauern und Schäfer Buntes. Bildende Kunst, hier bühnenbildnerisches Schaffen in theatraler Situation, hat in Meiningen schon fast Tradition. Und so darf sich ein Künstler austoben und verwirklichen, doch stets in Harmonie mit der Musik und den Darstellern und die beeindruckten allesamt stimmlich wie darstellerisch.

Emma McNairy ist eine wirklich königliche Isabella von Spanien, die in überzeugender Präsenz alle Facetten dieser Frau stimmlich wie schauspielerisch bewundernswert beherrscht. Mykhailo Kushlyk, ihr Sohn Giovanni, mimt anfangs höfisch gestelzt das Muttersöhnchen, mutiert aber überzeugend trotz Schmeichelkurs zum Antihelden. Dementsprechend nimmt er sich stimmlich zurück und singt fast anrührend zart. Ganz anders Corrado, dem Tobias Glagau finsteren Touch verleiht und der in kalter Berechnung keine Zuneigung erntet. Monika Reinhard als Lilla, sinnfällig mädchenhaft und anmutig hell gekleidet, trifft punktgenau und situationsgemäß den Gefühlen von Angst oder Zärtlichkeit und zeigt durchaus überzeugend, dass sie nicht nur ein ehrbares, braves Hascherl ist, sondern den Übergriffen der Höfischen oder dem Misstrauen ihres Verlobten Paroli bieten kann. Ihr reifer Mezzo gibt der Oper Größe. Schrill, bunt, rothaarig mit offenherzigem Dekolleté, aus dem der Kunstbusen leuchtet, darf Sara-Maria Saalmann als Ghita über die Bühne turnen. Ein Ausbund an Temperament und Bauernschläue zeigt allen, wo es lang geht. Ihr jugendlicher und kräftiger Sopran singt jeden in Grund und Boden, aber auch die leisen, schmeichelnden Töne zeigen Wirkung. Ihr Verlobter Tita, Tomasz Wija, ist da stimmlich schon ein Gegenpol, der mit rüdem Bass seine männliche Dominanz massiv durchsetzen will und seine cholerischen Ausbrüche kultiviert.  Anders Lubino, den Jonas Böhm mit mehr Sensibilität darstellt, der aber kein Weichei ist, sondern durchaus Biss zeigt. Selçuk Hakan Tıraşoğlu zeigt sich mit kräftigem Bass und grimmiger Miene als Scheusal Lisargo, der sich aber letztendlich fügt.  

© Christina Iberl

Chin-Chao Lin führt die Meininger Hofkapelle leichtfüßig und lebendig. Selbst wo Pathos anklingt, verliert die Musik nicht an Schwung. Sehnsucht, Liebeskummer, Eifersucht und Raserei auf der Bühne finden ihr Pendant im Orchester, das aber nie über die Stimmen triumphiert, sondern sie trägt. Die Komposition überfordert nicht, ist aber weit mehr als bloße Unterhaltung und verdient ein Comeback.

1786 avancierte die Oper zum Blockbuster, Frauen zwängten sich nicht mehr in stramme Korsette und ließen sich von den verspielten und luftigen Kleidern der einfachen Bauernmädchen inspirieren. Ob sich das Meininger Publikum nach den Entwürfen Markus Lüpertz kleiden wird, sei abzuwarten. Anfragen zu dieser Kollektion werden sicher gerne entgegengenommen.

Großer lang anhaltender Beifall bescherten dieser Inszenierung Erfolg auf ganzer Linie und das Staatstheater Meiningen ist wieder um eine Aufführung reicher, die von sich reden macht und beste Unterhaltung garantiert.

Inge Kutsche, 2. Juni 2024


Una cosa rara
Vicente Martín y Soler
Libretto: Lorenzo Da Ponte

Staatstheater Meiningen

Besuchte Premiere am 31. Mai 2024

Regie: Andreas Baesler
Musikalische Leitung: Chin-Chao Lin
Meininger Hofkapelle

Weitere Vorstellungen: 23.06. | 11.09. | 21.09. | 20.10. | 21.11.2024