Dresden, Konzert: „Requiem für Soli, Chor und Orchester“, Antonín Dvořák

Eigentlich unverständlich, doch bei Dvořák denken wir zunächst an seine Slawischen Tänze, seine 9 Sinfonien, sein Violinkonzert, das wunderbare Cellokonzert und seine Kammermusiken. Dabei hat der Komponist mit seinem Stabat mater und seinem Requiem große kirchenmusikalische Werke geschaffen. Sein Requiem zählt zu den bedeutendsten Vertonungen einer Totenmesse in der Musikgeschichte. Es mag sein, dass die Komposition im 20. Jahrhundert ein wenig in den Hintergrund geriet, da die opernhaften und hochdramatischen Kompositionen von Verdi und Berlioz eher dem Publikumsgeschmack entsprachen. In der gleichen Besetzung wie heute gastierte die Dresdner Philharmonie bereits am 24. September dieses Jahres anlässlich des Dvořák-Festivals im Prager Rudolfinum. Mit dem heutigen Konzert erleben auch wir die einzigartige Sonderstellung dieses Werks als Monument des sakralen Repertoires.

© Oliver Killig

Dvořák, 1841 im böhmischen Nelahozeves geboren, soll nach dem Willen des Vaters eigentlich Gastwirt und Metzger werden. Glücklicherweise kann ihn der Kantor des Dorfes Zlonice vom außerordentlichen Musiktalent des Sohnes überzeugen; doch erst mit Beginn der 1880er Jahre wird Antonin Dvořák zu einem der bekanntesten und erfolgreichsten Komponisten in Europa. Noch zehn Jahre zuvor als Komponist dem breiten Publikum völlig unbekannt, als schlecht bezahlter Bratschist eines Prager Theaterorchesters, als Organist der Prager Adalbertskirche, lebt er in ärmlichsten Verhältnissen. Sein erster größerer Erfolg ist 1873 die Kantate Die Erben des WeißenBerges, ein Hymnus auf die Hussiten, die für die Entwicklung eines eigenständigen tschechischen Nationalbewusstseins eine wichtige Rolle spielen. Johannes Brahms und der Musikkritiker Eduard Hanslick werden auf den Komponisten aufmerksam, sorgen für ein vierjähriges Staatsstipendium. Dvořák verehrt Brahms außerordentlich und legt ihm viele seiner Kompositionen zur Begutachtung vor. Brahms wiederum fördert den jüngeren Kollegen generös und freundschaftlich So wird es Dvořák möglich, sich mehr dem Komponieren zu widmen, sich von großen Vorbildern zu lösen, seine eigene musikalische Ausdrucksweise zu finden. Es entstehen in den 1870er Jahren großartige Werke, so das Stabat mater, die Slawischen Tänze und die Klänge aus Mähren, die in Tschechien und international sehr erfolgreich werden und helfen, seine eigene finanzielle Situation auf sichere Füße zu stellen. Er wird als Dirigent seiner Werke eingeladen, die bedeutenden Musikverlage beginnen sich für ihn zu interessieren, es entstehen Freundschaften mit vielen namhaften Musikerkollegen. Jetzt wird er auch in England, dem traditionellen Gastgeberland aller musikalischen Genies, schnell bekannt. Das Birmingham Triennial Music Festival beauftragt ihn mit der Komposition eines Requiems. Unmittelbar nach der Uraufführung seiner Achten entsteht ein abendfüllendes Werk für vier Gesangssolisten, Chor, Orchester und Orgel. Zugrunde liegt die katholische Totenmesse, deren Text Dvořák in seinem Werk in 13 Teile gliedert.

Der Umfang des Werks deutet auf die Aufführungsbestimmung für den Konzertsaal hin. Für Dvořák als gläubigen Katholiken sind nicht das Todesgrauen, sondern die Betrachtung der grundlegenden Fragen des Lebens und die Hoffnung auf das erlösende Ewige Licht (Lux aeterna)der bestimmende Gedanke seines Requiems.

© Oliver Killig

Mit außerordentlichem Enthusiasmus komponiert er das Werk in nur 10 Monaten, diese noch unterbrochen von Tourneen nach Russland, England und Deutschland. Bereits Mitte Januar schreibt er seinem Freund Alois Gobl: „Es könnte Sie interessieren, zu erfahren, dass ich an einem großen Requiem arbeite, das 1891 in Birmingham aufgeführt werden soll. Die erste Nummer, dann Dies irae und Tuba mirum bis hin zum Quid sum miser ist schon getan“. Bisweilen wird er an ungewöhnlichen und eher ungeeigneten Orten inspiriert. So schreibt er im Mai 1890 während einer Zugfahrt nach London das Lacrimosa. Im Juni teilt er seinem Freund Antonin Rus mit: „Mein Requiem schreitet gut voran (ich habe bereits zwei Drittel davon fertiggestellt), und ich hoffe, bald fertig zu sein“. In einem Brief an den Musikkritiker Emanuel Chvála meldet er im Oktober die Fertigstellung und äußert seine Zuversicht, mit dieser Komposition einen Schritt weitergegangen zu sein als im Stabat mater, in seiner Messe und seinem Oratorium. Eine Welle der Sympathie empfängt Dvořák in Birmingham. Die Uraufführung des Werks am 9. Oktober 1891 unter seiner Leitung wird zum krönenden Abschluss des Festivals. Weitere Aufführungen in ganz Europa folgen im Jahr darauf. Er selbst wählt das Requiem für sein Bostoner Konzert im Jahr1892 aus. Er wird zum Künstlerischen Leiter und Lehrer für Komposition des Conservatory of Music in New York ernannt. Diesem Angebot kann er nicht widerstehen, bietet man ihm doch das annähernd Dreißigfache seines Prager Professorengehalts. „Die Amerikaner erwarten große Dinge von mir, vor allem soll ich ihnen … eine nationale Kunst schaffen“ (Antonin Dvořák). 1895 kehrt er mit seiner Familie nach Prag zurück, wird Leiter des Prager Konservatoriums, der österreichische Kaiser ernennt ihn zum Mitglied des Oberhauses des Parlaments. Die Vereidigung und die daran anschließende Sitzung lässt er noch über sich ergehen, dann verabschiedet er sich von der Politik. Auf dem Höhepunkt seines kompositorischen Schaffens und allgemeiner Anerkennung stirbt Antonin Dvořák 1904.

Dvořák stehen als Komponisten alle Gestaltungsmittel des Dramas ebenso wie meditative, lyrische andachtsvolle Töne und ein wunderbar breites Farbspektrum zur Verfügung. Die Mischung von Dramatik und lyrischen Abschnitten, in die immer wieder slawische Volksmusikmotive einfließen, macht Dvořáks Werk einzigartig. Dabei bevorzugt er in seinem Requiem bewusst dunkle Farben, tiefe Bläser und oft den vierstimmigen Männerchor. Diese Elemente bestimmen wesentlich das Klangbild. Ein klagendes, seufzendes Motiv, das durch die Umspielung eines Tones um eine kleine Sekunde, mal nach unten, mal nach oben, entsteht, durchzieht das ganze Werk. Als Kontrapunkt im Dies irae sorgt es für nahezu schmerzhafte Dissonanzen, dramatisch, aber nicht apokalyptisch wie bei Verdi und Berlioz. Das Grundmotiv der Komposition, so auch im Tuba mirum, intoniert von der Trompete, gefolgt von einem übermäßigen Dreiklang und einem Gongschlag, löst beim Hörer eine beängstigende, aber nicht Furcht einflößende Wirkung aus. Am Ende des Agnus Dei, nach einem ekstatischen, danach ersterbenden Lux aeterna luceat eis endet das Requiem wie es begonnen hat, mit dem Klagemotiv in düsterem b – Moll, schmerzlich, aber in der Zuversicht auf Rettung. Kompliziert strukturierte Momente, insbesondere für die Solisten, die fein ausgearbeitete Instrumentation, dazu glanzvolle Blechbläsersätze bringen das Werk zum Strahlen. Am meisten Gewicht hat der Chor, er macht das Requiem zu einem der kraftvollsten, ausdrucksstärksten Werke des 19. Jahrhunderts.

© Oliver Killig

Der Prager Philharmonische Chor, 1935 gegründet, der älteste professionelle Chor Tschechiens, seit 2007 geleitet von Lukáš Vasilek, unterstützt von Lukáš Kozubik, ist ein weltweit renommierter Chor, der auch die heutige Aufführung prägt. Sehr genau in den kleinen Einwürfen, die homophonen Sätze hervorragend ausbalanciert, sorgt er mit seiner differenzierten Klangkultur für kraftvolle Steigerungen ebenso wie für Präsenz und Leichtigkeit in den Fugen des Quam olim Abrahae. Welch ein Chor! Die Prager sind das eigentliche Ereignis des Abends. Dieses Aufeinanderhören, diese aufmerksame, liebevolle Behandlung jedes Tons, jeder Phrase, hätte ich mir auch für das Orchester gewünscht. Das Solistenensemble mit Simona Šaturová, Anna Lapkovskaja, Benjamin Bruns und Tomasz Konieczny ist gut aufeinander abgestimmt. Herausragendes leisten die beiden Sängerinnen mit ihrem weichen, leuchtenden Timbre. Der Dirigent Michael Sanderling, langjähriger verdienstvoller Chefdirigent der Dresdner Philharmonie, seit 2021 Chefdirigent des Sinfonieorchesters Luzern, gibt den Solisten Raum, ihre Phrasen mit Ruhe und Sorgfalt zu gestalten. Sanderling fordert Dringlichkeit und Leidenschaft ohne eilige Tempi, lässt auch Zeit für den Melodiker Dvořák. Die kontrapunktischen Passagen gelingen kraftvoll und präzis.

Schade, dass man nicht den Mut hatte, das Requiem ohne Pause für Sekt und Häppchen aufzuführen.

Bernd Runge, 3. Oktober 2024


Requiem für Soli, Chor und Orchester op. 89 (B 165)
Antonin Dvořák (1841 – 1904)

Kulturpalast Dresden

2. Oktober 2024

Michael Sanderling, Dirigent
Prager Philharmonischer Chor
Dresdner Philharmonie