Einen alles in allem lustigen „Freischütz“, kann’s den geben? Und einen „Freischütz“, in dem Ännchen zwar immer noch eine sog. Nebenrolle, aber doch eine sehr gewichtige Nebenrolle spielt?
Man kann ihn zurzeit im Ulmer Theater besichtigen. Am Ende also herrscht weder die affirmative Zustimmung zu einem Gnadenakt noch der Terror (nein, Max wird nicht erschossen). Am Ende dürfen Max und Ännchen die Bühne verlassen: durch den Zuschauerraum. Einige Momente zuvor saß die junge, nicht zufällig wie er gekleidete Dame, die den Jäger zwei Akte lang den Verlobten Agathes deutlich genug anhimmelte, noch weinend abseits: auf einem so praktischen wie bezeichnenden Baumstumpf. Dann aber merkt Max, dass sein Interesse am hochoffiziellen Jägerdasein vielleicht doch nicht so rein und die Liebe zu Agathe, über das es zu erreichen wäre, vielleicht doch nicht so rein war. Also –, entschließt er sich kurzerhand, den Schlusschor und damit jene Gesellschaft zu verlassen, die ihn fast drei Akte lang zum potentiellen Outlaw erklärt hat. Und da das Ännchen mit Maria Rosendorfsky erstklassig besetzt ist, gönnen wir dem „Jägerburschen“ auch ihr Glück. Wie sagte Brecht so schön: „Es geht auch anders, doch so geht es auch.“
Sie wolle, sagte die Regisseurin Annette Wolf, die Geschichte vom Freischütz „eher zeitlos“ erzählen – doch „die Gesellschaftskritik wird leise kommen, aber sie wird kommen“. Die böse Geschichte wird ernst genommen, aber nicht ins Düstergraue gezogen (nein, die Oper spielt nicht kurz nach 1945). Dass sie kurz nach einem großen Krieg spielt, merkt der Zuschauer nicht. Stattdessen bekommt er eine kurzweilige story serviert, in dem durchaus die Farbe herrscht. Die Mädels feiern nicht allein den Junggesellen-Abschied in von Petra Mollérus entworfenen Dirndln, mit denen sie noch am nächsten Tag zur endenden Wiesn 2024 fahren könnten. Schwarzweiß sind hier allein Samiel und Caspar, die wie zwei sich gelegentlich fetzende Brüder in analogen und doch gespiegelten Kostümen agieren. Alles nicht so schlimm, will uns die Aufführung sagen; das Übelste ist schon die Tötung eines niedlichen Fuchses, der während der Ouvertüre noch durch die tierliebende Agathe vor einem Jäger bewahrt wird, durch Caspars sechste Kugel. Dass der Kerl selbst im Loch der Zielscheibe versteht, die als Bühnenpodest auf der gleichfalls von Petra Mollérus entworfenen, sowohl symbolischen als auch praktischen Einheitsbühne dient, muss nicht zu Herzen gehen. Und ebenso wurden die Chöre ironisiert: der Jägerchor, früher eines der beliebtesten Sonntagskonzertstücke, heute eher eine Zielscheibe, für die von der Regisseurin erwähnte „Gesellschaftskritik“, ist ein witziger Haufen, der an der Theke steht und freihändig die Schnapsflasche ansetzt, um – nich‘ lang snacken, Kopp in’n Nacken! – das Gesöff die Kehler hinunter laufen zu lassen. Witzig auch die sich ändernde Maske: am Ende sehen die Bärte der Kerle doch arg zerzutzelt und gerupft aus, während die Damen des Chors allesamt verschmiertes Makeup tragen. Was da wohl nach dem Walzer passiert ist? Zugegeben. Die inneren Angstvisionen Max’ und Caspars, die die Zeichnung eines äußeren Schreckens nicht überflüssig, aber problematisch macht, werden manchmal zu Gunsten eines gestisch gut durchgearbeiteten Schautheaters suspendiert, aber nicht jeder Freischütz muss als Trauerspiel der deutschen Seele inszeniert werden. Dagegen stehen schon Ännchens „Nummern“ ein.
Die Wolfsschlucht wird also in dieser Anlage zum herzhaft faulen Zauber, der Eremit mimt die Erscheinung der toten Mutter, Samiel dafür die Erscheinung der Agathe (auch das macht spiegelbildlichen Sinn). Der Raum des Theaters Ulm spielt mit, die beiden Kontrahenten, die denn doch über dem Alkohol wieder zusammenfinden (wie gesagt: Alles nicht so schlimm), erklimmen über zwei Leitern den Rang und schauen sich die „Schlucht“ erst einmal von oben an. Wenn etwas vom Himmel geschossen wird, sind’s große weiße Rosen, was in der Stadt der Widerstandsbewegung „Weiße Rose“ einen seltsam düsteren Beigeschmack hat, auch wenn’s durch das auch hier gestrichene Vorspiel Friedrich Kinds legitimiert wird: der Eremit, der Agathe durch die Blumenspende schützt. Die Inszenierung nimmt ihre Protagonisten ernst, ohne in die tödliche Tragödie zu fallen; die goldenen Sterne erglühen tatsächlich – wie auf Knopfdruck, aber impressiv – wenn Agathe ihre Arie anstimmt. Mag sein, dass einige Sequenzen des Abends in das Kasperletheater abdriften, wie man und frau gelegentlich am Abend meinte. Die Hauptsache bleibt unberührt: das immer noch berührende Pathos, das Weber und Kind ihrem Stoff auf den Weg gaben. Hier also die Joint rauchenden Mädels, dort die Verzweiflung eines Mannes, der den Konventionen, an die er noch glaubt, nicht genügt. Hier das blaue Strumpfband, ein etwas anderer „Jungfernkranz aus veilchenblauer Seide“, dort die Totenkrone. Hier das brutale Gelächter der Volksmasse, dort die Vorbereitungen auf die Hochzeit; es wird, natürlich, auch Torten geben. Hier die betrunkenen Mädels (Szenenapplaus!), dort Ännchens stille Traurigkeit. Zusammen ergibt das einen hoch unterhaltsamen Abend, der Webers und Kinds Meisterschuss leicht macht, aber nicht bagatellisiert.
Panagiotis Papadopoulos hat in diesem Konzept der Gleichzeitigkeit innerer Nöte mit einem amüsanten Schautheater das Philharmonische Orchester der Stadt Ulm sozusagen unter Kontrolle, indem er nicht durch die Partitur hetzt, aber dem Strom der Musik den Weg leitet. Man schafft sozusagen Ausdruck durch eine gelegentlich gut gezügelte Leidenschaft – und lässt die „großen Stellen“ kommen. Da Der Freischütz eine Chor-Oper ist, darf auch der von Nikolaus Henseler vorzüglich einstudierte Extra- und Opernchor des Theaters Ulm glänzen. Die Hauptrollen wurden mit Markus Francke und Maryna Zubko ausgezeichnet besetzt: Francke verfügt über einen charaktervollen Tenor, Zubko über eine freie und ausdrucksstarke, dabei nicht forcierende Höhe; die Empfindsamkeiten, die seit der spektakulären Premiere des Werks im Berlin des Jahres 1821 der Oper innewohnen, als Mad. Seidler die Agathe sang, besitzt auch die Ulmer Aufführung: nicht zuletzt dank Maryna Zubka. Vom Ännchen Maria Rosendorfskys war schon die Rede; sie ist, noch vor dem gut aussingenden, wenngleich nicht nachtschwarzen Caspar Martin Gäblers, die prima inter pares im Liebesterzett der Oper. Der Eremit ist bekanntlich eine kurze, aber ultrawichtige Rolle, Shunya Goto singt ihn (nachdem er zunächst seinen lästigen Schatten losgeworden ist) vortrefflich, also mit Deutlichkeit und sauberem Klang. Und da er über weite Strecken des Abends neben dem witzig-charmanten (der Akteur ist „eigentlich“ Tänzer) wie dämonisch-gruseligen Samiel des Gaëtan Chailly zu agieren hat, gehört auch er zu den Hauptrollen dieser Produktion. Mit Dae-Hee Shins Ottokar und Cornelius Burgers Cuno verfügt das Theater Ulm zudem über ein Ensemble, das den Freischütz unfallfrei aufzuführen vermag. Wie gesagt: ein eher leichtgewichtiger, aber nicht trivialer Freischütz – mit einem etwas anderen lieto fine, aber doch einem glücklichen Schluss.
Das Publikum war’s zufrieden – und so auch der Rezensent.
Frank Piontek, 7. Oktober 2024
Der Freischütz
Carl Maria von Weber
Theater Ulm
Besuchte Aufführung: 5. Oktober 2024
Premiere: 26. September 2024
Inszenierung: Annette Wolf
Musikalische Leitung: Panagiotis Papadopoulos
Philharmonisches Orchester der Stadt Ulm