Lübeck: „Die Passagierin“, Mieczysław Weinberg

© Jochen Quast

Das war ein sehr beeindruckender Opernabend! Die Premiere von Weinbergs grandioser Oper Die Passagierin am Theater Lübeck versetzte das zahlreich erschienene Publikum in einen Zustand höchster Begeisterung. Nach Verklingen der letzten Takte war es einige Sekunden lang ganz still. Und dann brach der Applaus los. Sämtliche Beteilige einschließlich des Regieteams durften sich über die uneingeschränkte Zustimmung des Auditoriums freuen. Schließlich erhoben sich viele Zuschauer von ihren Plätzen und spendeten Standing Ovations. Das war aber auch durchaus berechtigt. Denn bei der Passagierin handelt es sich um etwas ganz Besonderes. Hier haben wir es mit einem Werk von erlesenster Güte, atemberaubender Intensität und immenser Eindringlichkeit zu tun, die einen ganz in seinen Bann zieht. Der geistige und musikalische Gehalt der Oper ist enorm, die Botschaft von zeitloser Gültigkeit. Ebenfalls stark außergewöhnlich ist die Wirkung, die die Passagierin auf das Publikum hat. Man verlässt bei ihr den Zuschauerraum anders als es bei sonstigen Stücken des Musiktheaters der Fall ist. Man ist in hohem Maße ergriffen, berührt und sogar beklommen. Weinbergs Werk erschließt sich dem Auditorium auf einer unterschwelligen, gefühlsmäßigen Basis, die es zunächst kaum spürt, die es dann aber umso stärker in ihren Bann zieht. So war es auch an diesem gelungenen Abend.

Ich werde nicht müde, mich für die Oper Die Passagierin von Mieczysław Weinberg zu begeistern. Dreimal habe ich sie schon gehört, die Partitur studiert, und jedes Mal verstand ich die Schönheit und Größe dieser Musik besser. Ein in Form und Stil meisterhaft vollendetes Werk und dazu vom Thema her ein höchst aktuelles. Die Musik der Oper erschüttert in ihrer Dramatik. Sie ist prägnant und bildhaft, in ihr gibt es keine einzige ‚leere‘, gleichgültige Note. Dieses lobende Postulat über Weinbergs Passagierin, für die Alexander Medwedjew das Libretto schuf, stammt von keinem Geringeren als Dmitry Schostakowitsch. Es findet sich im Vorwort des Klavierauszuges der Passagierin. Dieser Meinung von Schostakowitsch, dem Freund und großen Mentor Weinbergs, kann man sich nur voll und ganz anschließen. Es ist unmöglich, von der Passagierin nicht gefesselt zu sein, was auch bei der Lübecker Premiere wieder einmal offenkundig wurde. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass sich Weinbergs phänomenale Oper in den vergangenen Jahren immer mehr auf den deutschsprachigen Bühnen durchgesetzt hat. Und das sogar ein kleineres Theater  wie das in Lübeck es derart phänomenal auf die Bühne bringen kann, ist schon sensationell.

© Jochen Quast

Der jüdisch-polnische Komponist Weinberg, der bereits in jungen Jahren vor der in sein Heimatland einmarschierenden Armee der Nazis in die UdSSR fliehen musste und die restliche Zeit seines Lebens dort im Exil verbrachte, greift in seiner Passagierin, die in der UdSSR aus ideologischen Gründen lange Zeit nicht aufgeführt werden durfte, das schwärzeste Kapitel der deutschen Geschichte auf: den Holocaust und die Gräuel in den Konzentrationslagern. Der Oper zugrunde liegt der gleichnamige Roman – Im Original: Pasazerka– der polnischen Auschwitzüberlebenden Zofia Posmysz (1923 – 2022), in dem diese ihre Erlebnisse in Auschwitz mit ungeheurer Radikalität schildert und dabei neben der Hauptproblematik von Schuld und Sühne auch die Verdrängungsmentalität der Nachkriegszeit eindringlich anprangert. Weinberg, der einen Großteil seiner Familie im Holocaust verlor, und Medwedjew haben die Grundstruktur von Frau Posmysz‘ sehr lesenswertem Buch in ihrem Werk beibehalten und nur wenige Änderungen vorgenommen, um einzelne Handlungsstränge dem Opernsujet anzupassen.

Geschildert wird die Geschichte der ehemaligen KZ-Aufseherin Lisa, die Ende der 1950er Jahre auf einer Schiffsreise nach Brasilien, wo ihr Ehemann Walter seinen neuen Posten als Botschafter der Bundesrepublik Deutschland antreten soll, in einer mitreisenden Passagierin einen einstigen Auschwitz-Häftling, Marta, zu erkennen glaubt, die sie längst für tot hält. Diese Begegnung ruft in ihr Erinnerungen an die Zeit im Konzentrationslager wach. Ihre verdrängte Vergangenheit steigt zunehmend wieder an die Oberfläche. Sie sieht sich in Auschwitz in ihrer alten Rolle als junge KZ-Wärterin. Ihr gegenüber steht Marta, zu der sie eine ganz persönliche Beziehung aufbaut und der sie sogar ein Treffen mit ihrem ebenfalls gefangenen Verlobten Tadeusz – dieser ist in der Oper im Gegensatz zu Zofia Posmysz‘ Roman nicht bildender Künstler, sondern Geiger – ermöglicht, die sie am Ende aber doch in den Todesblock schickt. Wie Marta dem Tod letztlich entrinnen konnte, ist ein großes Geheimnis, das bis zum Schluss unaufgeklärt bleibt. Unter der übermächtigen Last ihres schlechten Gewissens gesteht Lisa ihrem entsetzten Ehemann schließlich alles, wobei auch die Stimmen der Vergangenheit eine ausführliche Rückschau einfordern: Jetzt mögen andere sprechen! Die Hölle von Auschwitz wird für Lisa zum Inferno ihrer Erinnerungen. Im Folgenden spielen sich die einzelnen Szenen abwechselnd auf dem Ozeandampfer und in Auschwitz ab. Es ist eine erschütternde Geschichte, zu deren Zeugen die Zuschauer hier werden. Weinbergs Passagierin stellt einen stark unter die Haut gehenden, beklemmenden Kontrapunkt gegen das Vergessen dar, ein flammendes Plädoyer gegen jede Art des Verdrängens mit den Mitteln des Musiktheaters.

© Jochen Quast

Regisseur Bernd Reiner Krieger ist in Zusammenarbeit mit Hans Kudlich (Bühnenbild) und Ingrid Leibezeder (Kostüme) eine insgesamt ansprechende Inszenierung gelungen. Er wartet mit einer schlichten, sich nah am Libretto bewegenden Erzählweise auf, die gut nachvollziehbar ist und sich durch eine solide Führung der Personen auszeichnet. Dabei macht er indes gerne auch mal Anleihen bei David Pountneys Bregenzer Inszenierung der Uraufführung der Passagierin von 2010. Gleich Pountney gelingt Krieger eine einfühlsame Gegenüberstellung der beiden Welten des Ozeandampfers und Auschwitz. Der untere Teil des Bühnenbildes wird von Lisas und Walters Kajüte gebildet. Darin erblickt man ein Sofa und einen Waschtisch mit Spiegel, an dem sich Lisa einmal voll des schlechten Gewissens manisch die Hände wäscht. Dieses eindringliche Pilatus-Motiv hat man aber schon bei Pountney in Bregenz gesehen. Neu ist es mithin nicht mehr. Über der Kajüte erheben sich mehrere gewunden nach oben führende Schiffsdecks. Auf dem vorderen Teil der Bühne tritt der Bass-Chor einige Male auf. Dieser darf seine Bemerkungen später auch manchmal vom Deck aus singen. Wenn die Szene nach Auschwitz wechselt, senkt sich die Kajüte ein wenig nach unten. Statisten entfernen die Möbel. Im Hintergrund fährt eine stählerne Wand auseinander und gibt den Blick frei auf die SS-Leute. Wo früher die Kabine war, ist jetzt Auschwitz. An den seitlichen Wänden sammeln sich die Häftlinge, rechts die Männer, links die Frauen. Letztere sind nicht – wie sonst oft zu sehen – mit hässlichen Glatzköpfen versehen, sondern tragen allesamt Kopftücher. Das kann man so machen. Im Lauf der Aufführung werden die Auschwitz-Bilder meistens von den Kojen der Häftlingsfrauen dominiert. Auch das ist ein Aspekt, den man schon von David Pountney her kennt. Der obere Teil des Schiffes ist die ganze Zeit über sichtbar. Von hier aus wird Walter zeitweilig zum stummen Zeugen der Vorgänge im Konzentrationslager. Ganz oben spielt im vorletzten Bild des zweiten Aktes die Schiffskapelle. Das erste Bild des zweiten Aktes hat der Regisseur im sogenannten Kanada angesiedelt. Hier gelingt ihm eine sehr emotional inszenierte Wiederbegegnung zwischen Marta und Tadeusz. Ebenfalls ungemein eindringlich ist Krieger die Konzertszene im zweiten Akt gelungen, an deren Ende Tadeusz zur Hinrichtung geschleppt wird. Es sind schon recht starke Bilder, mit denen der Regisseur hier aufwartet. Viele fremdsprachige Passagen hat er ins Deutsche übersetzen lassen. So hört man auf dem Schiff nur deutsch. Auch in den Auschwitz-Szenen wird größtenteils deutsch gesungen. Englisch und Französisch sind gänzlich eliminiert worden. Marta und Tadeusz singen ihr Duett allerdings in Polnisch. Auch Marta bedient sich, wenn sie allein ist, dieser Sprache. So beispielsweise im Epilog, in dem der zentrale Satz des Ganzen Wenn eines Tages eure…Stimmen verhallt sind… auf den Hintergrund projiziert wird. Das hinterließ einen gewichtigen Eindruck. Insgesamt kann man mit Kriegers Inszenierung leben. Die Rezeptionsgeschichte der Passagierin bringt sie jedoch wegen der oftmaligen Bezüge zu David Pountneys Bregenzer Produktion aber nicht sonderlich voran. Das Publikum indes schien davon nichts zu merken und zeigte sich sehr angetan von Kriegers Regiearbeit.

© Jochen Quast

Von immenser Spannung geprägt offenbart sich die Musik. Weinbergs Klangsprache ähnelt stark derjenigen von Schostakowitsch. Die Partitur beruht auf einer erweiterten Tonalität und weist zudem Elemente der Dodekaphonie auf. Nichtsdestotrotz ist der Klangteppich aber ausgesprochen schön und oft auch recht melodiös. In diesem Zusammenhang sei nur auf die Lieder der Auschwitz-Häftlingsfrauen, den Choral und das herrliche Liebesduett zwischen Marta und Tadeusz im zweiten Akt hingewiesen. Und für die von Weinberg hier ins Feld geführte Leitmotivtechnik hat offenbar Richard Wagner Pate gestanden. Diese wirkt indes nicht direkt, sondern mehr unterschwellig auf den Zuhörer ein. Dennoch bleiben viele Themen nachhaltig in Erinnerung. Auffällig sind in erster Linie die zahlreichen Zitate aus der Musikgeschichte. Beispielsweise seien hier nur Bachs Chaconne aus der Partita Nr. 2 d-Moll für Solo-Violine, das Schicksals-Motiv aus Beethovens Fünfter Symphonie in c-Moll sowie das Prügel-Motiv aus Wagners Meistersingern genannt. Diese fulminante Musik geht enorm unter die Haut. Dirigent Takahiro Nagasaki breitete sie an diesem Abend zusammen mit dem klangschön und intensiv aufspielenden Philharmonischen Orchester der Hansestadt Lübeck in ziemlich langsamen Tempi, spannend und emotional aufgeladen genüsslich vor den Ohren des Auditoriums aus.

© Jochen Quast

Auf ungemein hohem Niveau bewegten sich die gesanglichen Leistungen. Marlene Lichtenberg sang mit gut durchgebildetem, kraftvollem und farbenreichem Mezzosopran eine gute Lisa. Darstellerisch ging sie ebenfalls voll in ihrer Rolle auf. Übertroffen wurde sie von Adrienn Miksch, die einen wunderbar warmen und gefühlvollen, dabei bestens italienisch fokussierten Sopran in die Partie der Marta einbrachte, die sie auch berückend spielte. Der Walter von Konstantinos Klironomos zeichnete sich durch einen in jeder Lage strahlkräftigen Tenor und lange ausgehaltene, stählerne Spitzentöne aus. Ein markant singender Tadeusz war Jakob Scharfman. Die Katja von Natalia Willot nahm nicht nur in dem sehr ebenmäßig dargebotenen a-capella-a-Moll-Lied im zweiten Akt nachhaltig für sich ein. Bei Elizaveta Rumiantseva war die Yvette trefflich aufgehoben. Mit tadellosen Altstimmen statteten Delia Bacher die Hannah und Julia Grote die Bronka aus. Stimmlich nichts auszusetzen gab es ferner an den gefälligen Mezzosopranen von Frederike Schulten (Krystina) und Aditi Smeets (Vlasta). In den Rollen der SS-Männer gefielen Viktor Aksentijevic, Changjun Lee und Wonjun Kim. Von Chul-Soo Kims profund klingendem Älterem Passagier hätte man gerne mehr gehört. Indes transponierte er das tiefe g um eine Oktave nach oben. Gegenüber ihren Kollegen fiel Ina Heises dünn singende Alte Frau ab. Bei Mark Mc Connell (Steward), Hilli Eichenberg (Oberaufseherin) und Ulrike Hiller (Kapo) waren die Sprechrollen in bewährten Händen. Eine großartige Leistung erbrachte der von Jan-Michael Krüger einstudierte Chor und Extrachor des Theater Lübeck.

Fazit: Eine Aufführung, deren Besuch sehr zu empfehlen ist!

Ludwig Steinbach, 14. Oktober 2024


Die Passagierin
Mieczysław Weinberg

Theater Lübeck

Besuchte Premiere: 12. Oktober 2024

Inszenierung: Bernd Reiner Krieger
Musikalische Leitung: Takahiro Nagasaki
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck