Vor 100 Jahren, im Juni 1925, hat der damals 23jährige Werner Heisenberg auf Helgoland die grundlegende Theorie der Quantenphysik im atomaren Bereich formuliert und damit ein Beispiel für die Verzauberung der Welt durch den menschlichen Geist geliefert. Jetzt war der Zauber der Musik in der ausverkaufen Historischen Stadthalle unmittelbar zu erleben. Hochromantische Klavierkompositionen spielte Igor Levit, die letzten Klaviersonaten von Schubert und Chopin, sowie die Nachtstücke Robert Schumanns. Dabei ging es musikalisch nicht um pianistische Hochleistungsakrobatik, sondern um das musikalische Resümee am Lebensende. Igor Levit will nicht nur „Tasten drücken“. Der „Bürger, Europäer, Pianist“ spielte in der jetzt vergangenen Saison u.a. im Wiener Musikverein, in der Berliner Philharmonie, der Elbphilharmonie, der Mailänder Scala, in der Carnegie Hall New York. Heute spielt er in Wuppertal.

Zu Beginn gab es die letzte Klaviersonate von Franz Schubert (1787-1828) aus dem so produktiven Spätsommer seines Todesjahres 1828. In konzentrierter Stille steigerte sich die Erwartung mit einigen leeren Anschlägen der über den Tasten schwebenden Fingern. Sehr moderato, fast zaghaft begann das ruhige, lyrische erste Thema. Der unheimlich Basstriller am Ende versackte gradezu im Pianissimo, konnte seine unheimliche Wirkung nicht recht entfalten. In der Durchführung nahm bei Tonartwechsel und Wandern des Themas durch die Stimmen der Satz mit vollgriffigen, sich steigernden Akkorden und seitlich am Klavierstuhl abgestelltem Bein des Pianisten Fahrt auf. Sehr seltene pianistische Unschärfen bei langen Crescendi repetetiver Akkordverdichtungen störten nicht weiter. Beim anschließenden erneut forcierten, fast brüchigen, stehenden, kontemplativen Piano hörte man die bekannte Stecknadel fallen. Über pochendem Orgelpunkt erstirbt mit einem letzten erschütternden Basstriller der Satz. Schade, dass durch den störenderem Applaus der Bezug zum nachfolgenden Adagio gestört wurde.
Der zweite Satz, ein Andante sostenuto, geriet so langsam, dass die musikalische Spannung kaum zu halten war. „Das Kennzeichen eines großen Komponisten ist es, in einem großen schöpferischen Kampf verstrickt zu sein, in dem die Kräfte äußerst unkontrolliert wüten, doch im hitzigen Sturm zugleich kühlen Kopf zu bewahren“ wird Schubert zitiert. Davon ist hier nicht die Rede. Jedes Zeitgefühl ging hier verloren. Eher handelt es sich um ersterbende Elegie, obwohl die zum Tode führende Erkrankung zum Zeitpunkt der Komposition noch nicht ausgebrochen war. Hat vielleicht das Komponieren zahlreicher großer Werke in den Monaten zuvor den Komponisten erschöpft und ausgelaugt? Robert Schumann schrieb über die Sonate von „viel größerer Einfalt der Erfindung, von freiwilliger Resignation“ als beinanderen Kompositionen Schuberts. Igor Levit kann nach seinem 13-Stunden-Konzert in London mit Erik Satie als Spezialist für Fragen der Zeit und ihrer Dehnung gelten. Zuhörer konnten aber diesem Vortrag nur mit höchster Konzentration folgen. Immerhin endet der Satz mit dem ostinaten rhythmisierten Vierton-Motiv zuletzt in Dur.
Dann perlte das flinke Rondo des letzten Satzes los, ein schnelles Allegretto, von der Stimmung her auch eher verhalten gespielt. Im B-Teil nach Vorstellung des Themas befremdete das Herausknallen einzelner Töne. Grotesk manieriert wurde dadurch der musikalische Fluss unterbrochen. Unter rhapsodischen Akkordfolgen stürmte es Stretta und virtuos trotzdem dem Ende entgegen. Großer Applaus für diese neue Hörerfahrung.
Die Nachtstücke Robert Schumanns (1810-1856) entstanden 1839. Er habe eine „Leichenphantasie geschrieben, habe beim Komponieren Leichenzüge, Särge gesehen“ ist bei ihm zu lesen. Wenn Philosophen schreiben, dass „der Komponist das innerste Wesen der Welt offenbart“, und „uns alle Bewegungen unseres Gemüts unkörperlich zeigt“. dann könnte diese Komposition schon als Hinweis auf die spätere Psychose des Komponisten gedeutet werden. Vom Titel her knüpft Schumann an E.T.A Hoffmanns gleichnamige Novellen an. Hier wechseln Marsch, folgt „Markiert und lebhaft“ ein schnelles Allegro mit angedeuteten Fugato und ungewohnten Akkordfolgen. Da wandern die Beine des Pianisten schonmal nach außen oder ausgestreckt nach vorne hoch unter die Flügelmechanik. Das steigert sich im 3. Stück „mit großer Lebhaftigkeit“ zu einem choralartigen Thema in der Tiefe umgeben von hoch virtuosen, walzerartigen Passagen. Zuletzt beruhigt ein „Lied ohne Worte“ mit himmlischen Piano-Abstufungen den Zyklus und das Publikum.
Frederic Chopin (1810-1849) hat Igor Levit nach seinen Angaben zwar schon einmal mal vor Jugendlichen in Addis Abeba, aber beim Klavierfestival Ruhr heute Abend tatsächlich zum ersten Mal gespielt. Nach Husten und Nießen legte Levit mit Verve los. Ohne Walzerseligkeit breitet sich der erste Satz zwischen Virtuosität und Liedthema aus. Aufkeimender Applaus am Ende wird abgewunken. Hochvirtuos stürmt das Scherzo des zweiten Satzes vorbei. „Das Klavier ist mein zweites Ich“ wird Chopin zitiert. Zerrissenheit und Abgründe kennzeichnen dieses „Konzert ohne Orchester“. Auf Emotionalität wird heute in allen Lebenslagen hingewiesen, selbst beim gelungenen Fußballtor. Die Bedeutung des Emotionalen wurde in der Romantik erkannt und von Levit mit Poesie und Ausdruck bei schwierigsten technischen Anforderungen eindrucksvoll umgesetzt. Am Ende des Largo bestach die empfindsame Dynamik. Und ihm letzten Satz mit seinen rasenden Läufen und gebrochenen Akkorden hinauf und hinab war der Zuhörer überwältigt von Temperament, Einsatz, Virtuosität und innerer Energie. Für den frenetischer Applaus, die stehenden Ovationen, das kleine Geschenk von den Mäzenen bedankte sich Igor Levitmit Franz Schubert Impromptu Nr 3. Anschließend erneut großer Applaus für diesen hochromantischen Klavierabend.
Johannes Vesper, 10. Juli 2025
Franz Schubert: Sonate Nr. 21 in B-Dur, D 960
Robert Schumann: Nachtstücke, Op. 23
Frédéric Chopin: Sonate Nr. 3 in h-Moll, Op. 58
Klavierfestival Ruhr
Wuppertal, Historische Stadthalle Johannisberg
8. Juli 2025
Igor Levit, Klavier