Frankfurt, Konzert: „hr-Sinfonieorchester“ – Russischer Abend mit Mussorgski, Prokofjew und Rachmaninow

Modest Mussorgski, der eigenwillige Alkoholiker aus Karewo galt bei vielen seiner Kollegen als schwierig und unzumutbar. Kein Wunder also, dass seine spröden Werke in deren unvollkommener Urgestalt wenig Zuspruch widerfuhr. Nicht anders erging es seiner 1867 entstandenen Komposition „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“. Das wilde Hexentreiben in der Johannisnacht gab es in der Urfassung ohne den versöhnenden Epilog, den Mussorgski erst später hinzufügte. Mussorgskis Freunde lehnten das Werk ab. Es wurde nie zu Lebzeiten des Komponisten gespielt. Erst im Jahr 1968 wurde die Urfassung veröffentlicht. Verbindlich galt bisher die Fassung von Nikolai Rimskij-Korsakow, der das wilde Werk Mussorgskis formal überarbeitete und durch eine herausragende Neuinstrumentierung veredelte. Erst in dieser Fassung wurde die Komposition ein Welterfolg.

Häufiger wird nun wieder die spröde, unfertig wirkende Urfassung gespielt, deren vier Teile Mussorgski selbst bezeichnete: Versammlung der Zauberer, ihre Gespräche und Erinnerungen; das Gefolge Satans; die Verherrlichung Satans; Hexensabbat. Mussorgski war stolz auf die wilde, ungebärdige Musik, die das Satanische treffend illustrierte.

Als Gast stand Andris Poga am Pult des hr-Sinfonieorchesters. Der Lette, aktuell Chefdirigent des Stavanger Symphony Orchestras, kann bereits auf eine stattliche Anzahl dirigierter Orchester zurückblicken. Ein besonderer Fokus seines Wirkens ist das russische Repertoire. Der äußerlich so gefasst wirkende Dirigent entschied sich für eine betont sachliche Interpretation, was recht deutlich die Absichten dieser Komposition widerlegte. An das dezidierte Programm des Komponisten war nicht zu denken. Warum also diese mittelmäßige Erstfassung, wenn es doch mit der Version von Rimskij-Korsakow eine so viel bessere Alternative gibt? Ein erzählerischer Zugang mit viel Theatralik gäbe Mussorgskis Fassung mehr Wirkung. Poga hingegen begriff diese Tondichtung als absolute Musik, versuchte die mediokre Formgebung Mussorgskis nachvollziehbar zu machen und fokussierte sich auf die Klanggestaltung. Letztere geriet dabei allerdings zum Ereignis! Denn zwischen Poga und dem hr-Sinfonieorchester hatte es hörbar „gefunkt“. Maximal motiviert und hoch wach beschenkte der Klangkörper die Zuhörer mit einer formidablen Leistung.

Im Jahr 1913 erlebte das zweite Klavierkonzert von Sergej Prokofjew seine umstrittene Uraufführung. Das damals 22-jährige Enfant terrible spielte es selbst und musste miterleben, wie der Großteil des Publikums völlig überfordert war, ein solch komplexes und kolossales Klavierkonzert zu erleben. Das Konzert überrascht durch seine ungewöhnliche Form von insgesamt vier Sätzen. Tradition und Moderne halten sich die Waage. Erzählerisch, teilweise spätromantisch in der Tonsprache am Beginn, dann wieder expressiv im aufgerissenen dissonanten Ausdruck. Dieses Konzert fordert Solist, Orchester und Zuhörer immens. Obwohl es vier Sätze gibt, gewährte der Komponist keinen Ruhepunkt. Permanent werden die Extreme gesucht.

Solistin des Abends war Yuliana Andreeva, Preisträgerin internationaler Wettbewerbe und reicher Auftrittserfahrung mit vielen Orchestern. Frappierend in der technischen Perfektion und jederzeit souverän spielte sie den hochkomplexen Part mit maximalem Einsatz.

© HR / Christine Schneider

Der Beginn des Konzertes war eine pianistische Sternstunde, denn die Innigkeit, mit welcher Andreeva begann, war atemberaubend. Mit großer innerer Ruhe entwickelte sie die Melodiestimme und spürte ihr mit tiefer Empfindung nach. Butterweich im Ansatz perlten die Akkorde in feiner Klanggestalt dahin. Gewaltig der Kontrast dann in der großen Kadenz des ersten Satzes. Ein heftiger Schlagabtausch, die linke Hand bekämpft die rechte Hand. Andreeva blieb hoch konzentriert und verzichtete auf eitles Tastengewitter. Faszinierend war dieser fortwährende Dialog der Hände.

Die Mittelsätze erschienen wie atemlose Schnellzüge auf Tasten. Im letzten Satz dann noch einmal eine expressive Kadenz, die Andreeva souverän wiedergab. Andris Poga und das an diesem Abend superbe hr-Sinfonieorchester betteten Andreeva in ein Klangfeld edelster Tongebung. Solistin und Orchester verschmolzen. Hinreißend!

Das Publikum feierte ausgiebig die Ausführenden und Andreeva bedankte sich mit einer höchst sensibel vorgetragenen Zugabe von J.S. Bach (2. Partita c-moll, Sarabande).

Sergej Rachmaninow beschloss sein kompositorisches Schaffen mit zwei reinen Orchesterwerken: der Sinfonie Nr. 3 a-moll op. 44 und den symphonischen Tänzen op. 45. 1935 entschloss sich Rachmaninow dazu, fast drei Jahrzehnte nach seiner meisterlichen zweiten Sinfonie. Die Arbeit gedieh rasch und bereits in zwei Monaten entwarf er den ersten und den zweiten Satz. Im darauffolgenden Sommer vollendete er den dritten Satz. Im Herbst desselben Jahres wurde sie dann vom Philadelphia Orchestra unter der Leitung von Leopold Stokowski uraufgeführt.

Rachmaninows dritte Sinfonie ist anders geartet als die beiden vorausgegangenen Sinfonien. Erstmals begnügte sich der Komponist mit einer Form in drei Sätzen. Gewagte Harmonien, zuweilen an der Grenze der Tonalität, exotisch anmutende Schlagwerkeffekte und groteske Wirkungen geben dieser Sinfonie einen ganz eigenen Charakter. Natürlich gibt es sie auch hier, die großen Streicherkantilenen, die an Hollywood Filmmusiken erinnern. Und doch ist diese Sinfonie so anders. Rachmaninow erfreut sich an den unterschiedlichsten Einfällen, die oftmals nur angespielt, jedoch nicht zu Ende entwickelt werden. Betörende neue Farben verwendet er im Adagio des zweiten Satzes. Hier klopfen Schreker und Zemlinsky an die Türe. Feinste Klangeffekte, die im rauschhaften dritten Satz in einem fulminanten Finale enden.

Jedes Orchester kann mit dieser Sinfonie brillieren, wenn ein Dirigent dies erlaubt. Andris Poga hatte mit dem prachtvoll auftrumpfenden hr-Sinfonieorchester beste Vorarbeit geleistet. Mit klarer, eher kleiner Zeichengebung folgte das Orchester reaktionsschnell seinem Gast-Dirigenten. Poga ließ die ausgezeichneten Streicher herrlich frei musizieren. Die Bläser übertrafen sich in edler Klangkultur und auch das Schlagzeug Ensemble ertönte selbstsicher und knackig, wie lange nicht. Im zweiten Satz gab es zudem für viele Orchestermitglieder reichlich Gelegenheit, in den anspruchsvollen Soli zu brillieren, stellvertretend seien hier Horn, Flöte und Violine erwähnt. Ein großer, herausragender Abend für das hr-Sinfonieorchester, welcher ausgiebig vom begeisterten Publikum gewürdigt wurde.

Dirk Schauß, 22. Januar 2023


Alte Oper Frankfurt

20. Januar 2023

Modest Mussorgski: „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“

Sergej Prokofjew: 2. Klavierkonzert g-moll op. 16

Sergej Rachmaninow: 3. Sinfonie a-moll op. 44

Dirigent: Andris Polga

hr-Sinfonieorchester