Nanu, gibt es denn noch eine dritte Fassung von Verdis Oper Simon Boccanegra nach der von 1857 und der weitaus erfolgreicheren und zumeist gespielten von 1881? Es scheint so zu sein, wenn man den landauf landein verbreiteten Ausführungen von Regisseur Vasily Barkhatov Glauben schenken kann, der das Stück gerade an der Deutschen Oper inszeniert hat. Da war nämlich im Vorfeld immer wieder die Rede von der Unmöglichkeit, dass man „zur selben Zeit ein guter Politiker und ein guter Familienvater sein kann. Um ein guter Politiker zu sein, müsste er seine Familie auf den Altar legen und opfern. Simon hat über sein(!) Amt die Familie verloren. Er ist davon besessen, seine Tochter zu suchen.“ Folgt man dem Libretto der zweiten Fassung, zu der sich auch die Deutsche Oper bekennt, dann strebt der Korsar Simon das hohe politische Amt an, um seine Familie zusammenzuführen, was gelingen könnte, wäre die geliebte Maria nicht gerade verstorben. Und wenn er die verschollene Tochter wiederfindet, dann wegen seines Amtes als Doge, das ihn dazu ermächtigt, als Brautwerber für den Gefolgsmann Paolo aufzutreten. Als Doge kann er auch dem Aufrührer Gabriele Adorno seine Waffe lassen, ihn zum Schwiegersohn und Nachfolger Im Amt bestimmen und die ewig verfeindeten Familien ebenso wie die beiden Gruppen der Plebe und Patrizi miteinander versöhnen. Sein Pech ist nur, dass er sich dem intriganten Handlanger Paolo ausgeliefert hat, der sich dafür rächt, dass seine Dienste nicht mit der Hand Marias belohnt werden. Keine Spur also von „Macht und Familie schließen einander aus“ und auch die Behauptung der Regie, „im Prolog sieht man ihn noch als guten Menschen“, was beinhaltet, dass er es als Doge nicht mehr ist, ist schlicht falsch.
Aber was soll’s: Da die Regie das Stück sowieso aus der Zeit der Renaissance, aus dem Ort Genua, was beides interessanteste Lösungen für Bühnenbild und Kostüme anbieten würde, verbannt, zudem das Meer, das neben den handelnden Personen Protagonist ist, denke man nur an das Stimmungsbild vor dem ersten Akt und Simones Bekenntnis zu demselben, ist es schon egal, dass wie so oft bei den neueren Produktionen ein Stück in eine unbestimmte, aber eher der Hässlichkeit frönende Moderne verlegt wird. In der gar nicht so lange zurückliegenden Inszenierung von Simon am Haus gab es immerhin noch Badelatschen und Gummitiere der in die Sommerfrische reisenden Genueser, allerdings auch eine auf der Dampflok vergewaltigte Braut unbekannter Herkunft, davor hatte man sich in den Achtzigern an einem Simon Boccanegra in der Regie von Giancarlo del Monaco erfreuen dürfen, die zumindest das Stück nicht entstellte, deren kalte Pracht allerdings auch nicht mit dem vergleichbar war, was die Stadt Genua selbst im Neubau ihres im Krieg zerstörten Opernhauses architektonisch verwirklichte. Aber es gab wunderbare Vorstellungen mit Renato Bruson oder Piero Cappuccilli. Bereits 1969 hatte Lorin Maazel das Werk mit Janowitz, Wixell und Talvela auf die Bühne gebracht. Nun also die vierte Inszenierung des schwierigen Stücks innerhalb eines halben Jahrhunderts, und summa summarum, die Deutsche Oper hat eine weitere Produktion im Repertoire, bei der nicht das Werk der Ausgangspunkt zur Entwicklung von Ideen zur Realisierung war, sondern eine Idee dem Werk auf Teufel komm heraus übergestülpt wurde. Vergleicht man den jetzigen Simon Boccanegra an der DOB mit dem vorherigen, so ist man vom Regen in die Traufe gekommen.
Eines immerhin ist tröstlich: Vieles, was vorab und in Programmheften wortreich verkündet wurde, ist auf der Bühne dann gar nicht wahrzunehmen. Da sieht man die Bühnenbilder von Zinovy Margolin, die austauschbar sind mit denen für Francesca da Rimini oder Das Wunder der Heliane und vielen anderen Produktionen und die Kostüme von Olga Shaishmelashvili, denen gern auch von einer Turandot oder Gilda zu Allerwelts- und Allerzeitsgültigkeit verholfen werden könnte. Es geht natürlich nicht ohne Video, so dass man am glücklichen Familienleben von nonno, madre e figlia teilnehmen kann, das zum Vorspiel der ersten Fassung und auch später immer wieder mal auf dem Fernseher oder auch der gesamten Bühne gezeigt wird, das den Zuschauer aber auch fragen lässt, warum Fiesco das Verschwinden des Enkelkinds beklagt, das doch gerade erst um ihn herumtanzte. Was seine musikalischen Qualitäten betrifft, kann man nachvollziehen, dass Verdi es nicht in die revidierte Fassung aufnahm.
Es fehlen nicht die üblichen Ingredienzien moderner Regie wie schnüffelnde Poizeiagenten unter und in den Betten und eilfertige Fotoreporter, ehe Simone bei Amelia aufkreuzt, die er erst noch mit ihrer Magd verwechselt, die hier aber eine der Zimmergenossinnen im Mädchenpensionat ist, in dem sich die unvorteilhaftest Gewandete statt am eigentlich besungenen Strand aufhält. Von Personenregie keine Spur oder aber, was auch nicht nett ist, absichtlich eine die Charaktere entstellende, so wenn Amelia schnöde die Rufe des sterbenden Vaters ignoriert und Adorno dasselbe mit der ihm frisch Angetrauten praktiziert, weil er sich um die Dienerschaft kümmern muss. Kurz und gut, alles wie schon oft erduldet, einschließlich von langandauerndem und penetrantem Verlesen von Zeitungsausschnitten, Ablichten von Zeitungsartikeln und unmotiviertem Lichtspektakel. Zum Glück wurde das alles von einem Teil des Publikums mit Buhrufen quittiert.
Überaus herzlich wurde hingegen das Sängerensemble aufgenommen, ja geradezu gefeiert. Cappuccilli ist seit langem tot, Bruson singt nicht mehr, und es wäre ungerecht, wenn man die heutigen Sänger an deren Stimmen und deren Rollengestaltung messen würde. Man muss mit einfach nur ordentlichen Leistungen zufrieden sein, und die wurden an diesem Abend durchaus geboten. Liang Li fasst seine erste Arie, „ il lacerato spirito“, noch sehr als Kraftakt auf, was zu einem unangenehmen Dröhnen führte, konnte aber im Verlauf des Abends, so mit der Segnung im ersten Akt und im Duett mit Simone mit differenziertem und seinen schönen Bass besser zur Geltung kommen lassendem Stimmeinsatz punkten. Attilio Glaser war Gabriele Adorno mit hochkultivierter, sehr musikalisch eingesetzter Stimme, der es allerdings an Spintoqualitäten mangelt, die eher ein lyrischer Tenor ist. Ein ernstes Wort mit der Kostümbildnerin sollte die Sängerin der Amelia sprechen, die sie so unkleidsam wie nur möglich gewandet hatte. Vokal ließ die junge Russin Maria Motolygina kaum einen Wunsch offen, erfreute mit einer frischen, in der Höhe schön aufblühenden, nur im Forte etwas zur Schärfe neigenden Sopranstimme. Fein voneinander abgehoben zeigten sich die beiden Baritone. Eine rechte Brunnenvergifter-Stimme hatte Michael Bachtadze für den Paolo, edler klang George Petean in der Titelpartie, wusste großzügig zu phrasieren und um ein italienisches Legato. Nur selten geriet er, so am Schluss der Ansprache im ersten Akt, fast an seine Grenzen und wirkte dann kurzatmig. Der Chor ließ sich durch die Tatsache, dass die Regie nichts mit ihm anzufangen wusste, nicht irritieren, sondern sang auf gewohnt hohem Niveau (Jeremy Bines), Jader Bignamini am Dirigentenpult hielt das Orchester zu brioreichem, federndem Spiel an und führte die Sänger aufmerksam. Auch er konnte wie die Solisten den Abend als persönlichen Erfolg verbuchen.
Ende Februar gibt es bereits eine Alternativbesetzung, die man dann, ohne noch von der Optik schockiert zu sein, genießen kann.
Ingrid Wanja, 29. Januar 2023
Giuseppe Verdi: Simon Boccanegra
Deutsche Oper Berlin
Besuchte Premiere am 29. Januar 2023
Inszenierung: Vasily Barkhatov
Bühne: Zinovy Margolin
Musikalische Leitung: Jader Bignamini
Orchester der Deutschen Oper Berlin