Bericht von der Premiere am 14. Januar 2018
Ein unerwartetes Geschenk für Opernfreunde
Seien wir ehrlich: Einen derart beglückenden Opernabend hatten wir nicht erwartet. „Ein Konversationsstück für Musik“ hat Richard Strauss sein letztes Bühnenwerk überschrieben. Zu seinem Wesen hatte er ausgeführt: „Keine Lyrik, keine Poesie, keine Gefühlsduselei. Verstandestheater, Kopfgrütze, trockenen Witz!“ Mitten im Zweiten Weltkrieg schien sich der greise Komponist in einen Elfenbeinturm zurückgezogen zu haben. Nicht einmal mehr „Oper“ wollte er es nennen, wenn sich im spätabsolutistischen Frankreich ein Dichter und ein Komponist um die Gunst einer Gräfin streiten und dabei wortreich einen Disput um das Verhältnis von Dichtung und Musik in der Bühnenkunst führen. Gespickt hatte Strauss die Partitur mit raffinierten musikalischen Anspiellungen, Rück- und Selbstbezügen und machte sich keine Illusionen über die Publikumswirksamkeit seiner Kopfgrütze. „Vielleicht nur ein Leckerbissen für kulturelle Feinschmecker“ sei das. Immerhin hatte er den Ehrgeiz, in diesem erklärtermaßen letzten Bühnenwerk eine Art musikalisches Testament zu hinterlassen.
Man hatte sich vor dieser Frankfurter Premiere also auf einen Abend gepflegter Langeweile eingestellt, war aber zuletzt dadurch beunruhigt worden, daß die Produktionsregisseurin in der Vorberichterstattung verbreiten ließ, sie werde die Zeitbezüge aufzeigen und die vom Stück scheinbar verdrängte Entstehung inmitten der Nazi-Barbarei kenntlich machen. Wir sahen schon die notorischen SS-Uniformierten aufmarschieren und saßen entsprechend mißmutig im Zuschauerraum – um dort sofort vom Anblick eines üppig wallenden, kunstvoll-beiläufig gerafften roten Brokatvorhangs besänftigt zu werden, der wie ein Barockgemälde auf den eigentlichen Bühnenvorhang aufgebracht ist.
Clairon (Tanja Ariane Baumgartner) und Graf (Gordon Bintner) vor Barockvorhang
Das einleitende Streichsextett beginnt vor diesem verschlossenen Vorhang, der sich zum bewegteren Mittelteil des Vorspiels hebt. Es erscheint ein von Wänden aus Glasbausteinen gesäumter und mit wenigen Korbmöbeln wintergartenhaft ausgestatteter Salon, an dessen Rückseite sich eine kleine Theaterbühne mit einer Kopie von eben jenem Vorhang in leicht abgewetztem Zustand befindet. Theater im Theater soll hier also gespielt werden, doppelbödig erscheint das alles schon zu Beginn. Außerdem sieht dieses von Johannes Leiacker entworfene Bühnenbild fabelhaft aus. Man befindet sich in den 1940er Jahren, machen Kulissen und Kostüme deutlich. Und doch bleibt man in Paris, bleibt im Umfeld hochgestellter Persönlichkeiten mit zahlreicher Dienerschaft. Die Vorlage wird nicht übermalt, sondern lediglich vom behaupteten Rokoko in die Gegenwart der Entstehungszeit transferiert. Die Glaswände sind vereist, zeigen so auch symbolisch den Winter des Schreckens, der vor den Mauern herrscht. Zudem lassen die halbtransparenten Wände schemenhafte szenische Kontrapunkte von außen zum vordergründig sorglosen Kunstdiskurs im Innern zu.
Was Brigitte Fassbaender nun in diesen Kulissen präsentiert, ist nichts weniger als eine Meisterleistung. Das Komödienhafte des Stückes zeigt sie mit viel Sinn für Humor, einige Albernheiten und Mut zum Slapstick inbegriffen. Das alles ist in dem durchweg intelligenten Libretto bereits angelegt, und die Regisseurin vermag es, mit einem zugleich präzise und locker agierenden Ensemble Witz und Charme der Vorlage leuchten zu lassen. „Kopfgrütze“ und trockener Witz werden launig wie prickelnder Champagner serviert. Langeweile kommt da in keiner Minute auf.
Heikler ist dagegen das Offenlegen der Zeitbezogenheit. Hier gilt es, feinste Andeutungen aufzuspüren und Ungesagtes bildlich zu verdeutlichen. Daß auch dies gelingt, macht diese Regiearbeit zur Maßstäbe setzenden Großtat. Fassbaender denunziert das Werk nicht, und sie überfrachtet es auch nicht plump mit Nazi-Uniformen, Soldatenstiefeln oder Bombenangriffen (denen sich schließlich das Münchener Uraufführungspublikum im Jahre 1942 allnächtlich ausgesetzt sah). Sie folgt zunächst der Spruchweisheit, daß Kinder und Narren die Wahrheit sprechen. So ist es hier der hinzugefügten stummen Rolle eines Kindes überlassen, die Abgründe der Entstehungszeit anzudeuten. Gleich zu Anfang stellt das Kind sich breitbeinig am Bühnenrand auf und salutiert spielerisch mit einem Hitlergruß. Dann erscheint es immer wieder mit Kriegsspielzeug beiläufig im Salon, wo die Erwachsenen ihre feinsinnigen Kunstdiskussionen führen. Daß dies eine dem Werk innewohnende, untergründige Schicht ist, präpariert Fassbaender überzeugend aus der großen Rede des Theaterdirektors La Roche heraus. Vordergründig entwickelt er die Vision eines Bühnenstücks über den Untergang Karthagos. Dabei fallen Sätze wie: „Seht hin auf die niederen Possen, an denen unsre Hauptstadt sich ergötzt! … Die Masken zwar sind gefallen, doch Fratzen seht ihr statt Menschenantlitze!“
Die Gräfin (Camilla Nylund) mit Schauspieldirektor La Roche (Alfred Reiter)
Dazu läßt die Regisseurin den Schauspieldirektor Diaprojektionen vorführen, die vorgeblich Entwürfe für die Kulissen des fiktiven Karthago-Stücks zeigen sollen. Gleich die ersten Bilder aber präsentieren, was das Textbuch mit „unsre Hauptstadt“ meint: nicht Paris, sondern die berüchtigten Modelle von Albert Speer zu Hitlers größenwahnsinnigen Umbauplänen Berlins in eine Hauptstadt „Germania“ werden gezeigt. In immer schnellerer Folge sieht man Kriegszerstörungen und verwüstete Städte, die gleichsam aus der Leinwand ausbrechen und als Projektionen schließlich den gesamten Bühnenraum ausfüllen. Wohin der Wahnsinn des Dritten Reiches führen wird, darf der Dichter Olivier als Resümee zum Ende des Vortrags verkünden: „Zum Schluß auf den Trümmern großes Ballett!“ Da hatte die Nazi-Zensur wohl geschlafen, als sie dieses Libretto freigab.
Das Werk ist eben nicht bloß feinsinnig gesponnener Schwanengesang, sondern zugleich diskreter Zeitkommentar. Fassbaender verhilft beidem zu seinem Recht. Gerade weil die Aufgabe so heikel war, kann man ihre glückliche Bewältigung triumphal nennen.
Dazu hat ihr die Opernintendanz eine exzellente Sängerbesetzung bereitgestellt, die wie in Frankfurt üblich aus den üppigen Reserven des Stammensembles schöpfen kann. So straft etwa AJ Glueckert in der Rolle des Komponisten Flamand die Behauptung Lügen, Strauss habe Tenöre nicht leiden können und ihnen hinterhältig unattraktive, dabei viel zu hohe Partien geschrieben. Nichts davon läßt der Sänger sich mit seinem baritonal grundierten, elegant bis in sichere Höhen geführten Tenor anmerken. Seine Darbietung des Sonetts ist ein erster musikalischer Höhepunkt. Nahezu tadellos präsentiert sich auch Daniel Schmutzhard als dessen Gegenspieler Olivier. Schon lange hat man seinen kernigen Bariton nicht mehr so unangestrengt fließen gehört.
Komponist (AJ Glueckert) und Dichter (Daniel Schmutzhard) buhlen um die Gräfin
Die wunderbare Tanja Ariane Baumgartner erfreut mit ihrem noblen Mezzo in der Rolle der Schauspielerin Clairon, die vom Bruder der Gräfin den Hof gemacht bekommt. Diesen Grafen gibt Gordon Bintner mit saftigem Kavaliersbariton, den man gerne auch in Frankfurt endlich einmal in einer Mozartrolle hören möchte. Alfred Reiter singt in der Rolle des Schauspieldirektors La Roche: „Ich sehe mich schon als Baßbuffo umherirren.“ Nun, da besteht bei Reiter keine Gefahr. Dazu ist seine Stimme inzwischen zu spröde. Den Mangel an sonorer Stimmesfülle gleicht er jedoch durch nuancierte Artikulation aus, mit der er seiner Figur scharfkantiges Profil und ironische Würze verleiht. Sydney Mancasola und Mario Chang markieren als italienische Sänger genau jene volltönenden Fremdkörper, als die sie vom Libretto konzipiert wurden. Selbst die Kleinstrollen der acht Diener sind mit jungen Sängern so vorzüglich besetzt, daß ihr gemeinsamer Einsatz kurz vor dem großen Schlußgesang zu einem perfekt abgemischten Ohrenschmaus gerät. Der Bayreuth-Veteran Graham Clark hat mit seinem durchdringenden Charaktertenor einen kurzen, aber prägnanten Auftritt als Souffleur.
In dieses exquisite Sängerensemble fügt sich als Gast Camilla Nylund in der tragenden Rolle der Gräfin perfekt ein. Nachdem sie in letzter Zeit vermehrt Ausflüge ins dramatische Fach unternommen hat, stellte sich die Frage, ob ihre Stimme noch zu den Silbertönen fähig ist, die eine Strauss-Partie von einem Sopran verlangt. Das ist sie, und sie klingt dabei lebendig, eben weil die Erkundungen jenseits der Grenzen eines lyrischen Soprans ihrem Gesang Reife und Farbe verliehen haben. In den Konversationspassagen der ersten beiden Drittel macht sich das außer in einem ausgeprägten, aber sicher eingehegten Vibrato noch kaum bemerkbar. Zur vollen Geltung kommt die Gestaltungskunst der Nylund aber in dem berühmten langen Schlußgesang, den sie hinreißend gestaltet.
Schlußgesang der Gräfin
Das Strauss-erfahrene Opernorchester hält sich unter der Leitung von Sebastian Weigle lange Zeit sehr zurück und zeigt einen klaren und transparenten Klang, der außerordentlich sängerfreundlich ist und es über weite Strecken erlaubt, dem Text ohne allzu häufigen Blick auf die Übertitel zu folgen. Aufblühen darf das Orchester im Vorspiel zum Schlußmonolog der Gräfin. Dabei scheint das die Melodie tragende Solo-Horn ein wenig zu sehr auf Sicherheit bedacht zu sein, wodurch dem Klang ein letzter Rest an abgeklärter Innigkeit fehlt. Im Übrigen paßt die hellwache und unpathetische Musizierhaltung perfekt zu den Intentionen der Inszenierung. Die Musik läßt sich so durchaus genießen, ohne daß man in die Gefahr gerät, vom Strauss‘schen Klangrausch überflutet zu werden.
Der Schlußapplaus ist ungeteilt zustimmend und kräftig, mit Bravi für die Nylund. Dem Frankfurter Produktionsteam ist es gelungen, das selten gespielte Stück von seinem Nimbus als intellektuelle Spielerei für Spezialisten zu befreien und es als unerwartetes Geschenk für jeden Opernfreund zu präsentieren.
Weitere Vorstellungen gibt es am 18., 20., 24., 26., 28. Januar sowie am 1., 10. und 18. Februar.
Eine vorzügliche Audio-Einführung der Frankfurter Opern-Dramaturgie ist online verfügbar.
Michael Demel, 17. Januar 2018
© Bilder: Monika Rittershaus