Bericht von der Uraufführung am 12. November 2017
Vorsicht, wachsame Nachbarn!
Mit Uraufführungskritiken ist das so eine Sache. Man erlebt – angeblich – Neues, noch nie Dagewesenes, und sucht doch nach Orientierung durch Vergleiche. Die Frankfurter Oper hat unter Einsatz ihrer immensen künstlerischen Potenz ein Auftragswerk herausgebracht, bei dem das Vergleichen sich geradezu aufdrängt. Der Stoff nämlich folgt dem symbolistisch-surrealen Roman „Le Locataire chimérique“ des Zeichners, Schriftstellers und Schauspielers Roland Topor, den bereits Roman Polanski als Vorlage für seinen Film „Le locataire“ (bekannt auch unter dem englischen Titel „The Tenant“) genutzt hat. Wer sich den Film in Vorbereitung auf den Opernabend noch einmal angesehen hat, wird den Stoff darin mühelos wiederfinden: Ein junger Mann, in der Oper heißt er „Georg“, mietet ein möbliertes Zimmer. Die Vormieterin hatte sich aus dem Fenster gestürzt. Gleichwohl ist sie auf unheimliche Weise noch immer präsent. Die Nachbarn zeigen sich lärmempfindlich, lauernd, verschlagen. Haben sie die junge Frau in den Tod getrieben? Schnell entwickelt Georg paranoide Züge, identifiziert sich mit der Vormieterin. Wahn und Wirklichkeit, Innen- und Außenwelt verschwimmen. Der junge Mann fühlt sich verfolgt, getrieben, nimmt immer mehr die Persönlichkeit der Vormieterin an, trägt schließlich sogar deren zurückgelassenes Kleid und ergibt sich endlich in deren Schicksal, indem auch er sich aus dem Fenster des Zimmers stürzt.
Björn Bürger (Der Mieter) mit Chor
Eine alptraumhafte Geschichte, ein Psychothriller mit kafkaesken Wendungen. Und so vergleicht man im Laufe des Abends nicht nur die Oper mit dem Film, sondern entdeckt freudig weitere Referenzen an die Literatur- und Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts. Gerade als der Kritiker sich vorgenommen hat, auf Parallelen zum Schicksal von Kafkas „Gregor Samsa“ hinzuweisen, wird auf der Bühne auf einen Zwischenvorhang mit großen Lettern „Die Verwandlung“ eingeblendet. Als Überschrift dieses Premierenberichts war bereits Sartres „Die Hölle, das sind die anderen“ gesetzt. Dann schlug der Kritiker die Zeitung auf und mußte zu seiner Enttäuschung entdecken, daß bereits der Kollege von der FAZ seine Besprechung der Uraufführung mit diesem Zitat eingeleitet hatte. Das war wohl allzu naheliegend.
Gleichwohl besitzt das neue Werk künstlerische Eigenständigkeit und ist kein bloßer Abklatsch eines Kinofilmes oder ein müder Aufguß hinlänglich bekannter surrealistischer oder kafkaesker Klischees. Dafür sorgt bereits die szenische Umsetzung, die in ihrer suggestiven Verbindung von Bühnenbild, Videoeinblendungen und Regie schon von der ersten Minute an derart überzeugt und regelrecht überwältigt, daß sich ein Besuch der Produktion alleine dafür bereits lohnt. Mit den von Bibi Abel produzierten Videos gelingt es dem Produktionsteam gleich zu Beginn, mehrdeutige Raumeindrücke zu vermitteln. Auf einen Zwischenvorhang wird eine realistische Ansicht eines abgenutzten, schäbigen Zimmers projiziert, die Szene der Zimmervermittlung an den Mieter erscheint als Stummfilm, die Sänger stehen hinter der halb transparenten Leinwand. Der Vorhang wird zur Seite geschoben, und zum Vorschein kommen kleine, auf der Drehbühne rotierende Inseln, die Räume andeuten. Kaspar Glarner hat das Bühnenbild entworfen. Unsichere Standorte schlingern in einem spukhaften Reigen durch ein schwarzes Nichts. Das für die Handlung zentrale Zimmer des Mieters erscheint wie ein unwirtliches Floß in diesem surrealen Meer. Zum Höhepunkt des Wahnsinns im dritten Akt kippt dieses Floß in einem bedrohlich steilen Winkel und reckt seine kalt leuchtende Oberfläche mitsamt seinem Bewohner dem Publikum entgegen, sodaß der Eindruck entsteht, man blicke von oben auf den Raum herab.
Schließlich wird ein Video auf den Zwischenvorhang projiziert, in welchem der Protagonist sich wie Alice im Wunderland als Riese in einem viel zu kleinen Raum klaustrophobisch windet. Durchgängig werden die Szenen von derart starken und fesselnden Bilderfindungen geprägt, daß man sie gar nicht alle aufzählen kann. Die Darsteller bewegt Regisseur Johannes Erath in diesem Geflecht von Schein und Sein mit großer Plausibilität. Vorproduzierte Filmeinblendungen und Bühnengeschehen greifen in einer Perfektion ineinander, die Staunen macht. Dabei erweisen sich die Sängerinnen und Sänger als ausgezeichnete Darsteller. Die Krone gebührt, wie sollte es anders sein,
Björn Bürger in der Titelpartie. Seinen Weg in den Wahnsinn zeichnet er mit plastischer Eindringlichkeit, die trotzdem nichts Chargierendes hat. Nie läßt er seine Figur zur Karikatur werden.
Die suggestive Stärke des Visuellen führt zu einem Effekt, den man bei zeitgenössischem Musiktheater oft beobachten kann: Die Musik wird über weite Strecken lediglich als elaborierter Soundtrack wahrgenommen. Hier tritt sie immerhin in vier längeren Passagen in den Vordergrund: Im ersten Sologesang des Protagonisten und in drei „Gesängen am offenen Fenster“ der geisterhaft präsenten Vormieterin. In seinem ersten Sologesang zeigt sich Björn Bürger auch musikalisch in herausragender Form. Über weite Strecken ungestützt, nur von elektronisch zugespielten Tropfgeräuschen eines Wasserhahns begleitet, absolviert der junge Bariton aberwitzige Intervallsprünge zwischen tiefem Baßregister und Falsett. Über die reine Stimmakrobatik hinaus vermag er es zudem, die Töne unter Nutzung einer großen Farbpalette klanglich nuanciert abzustufen. Daß er dabei intonatorisch offenkundig staunenswert präzise bleibt, zeigt sich, als gegen Ende des Gesanges ein Instrumentalklang sich dem gerade erreichten Falsett-Ton auf exakt gleicher Tonhöhe beimischt. Die drei „Gesänge am offenen Fenster“ hat Arnulf Herrmann der Sopranistin Anja Petersen auf den Leib geschrieben. Sie wurden als Extrakt aus der Oper bereits vor einiger Zeit mit Petersen in München uraufgeführt. Es handelt sich um sirenenhafte Klänge, bei denen Orchester, Live-Elektronik und Stimme zu einem hypnotischen Ganzen verschmelzen. In diesen reflektierenden Momenten wird die Eigenständigkeit der Musiksprache von Arnulf Herrmann plastisch erlebbar, während in den Szenen, welche die Handlung vorantreiben, Neue-Musik-Mainstream mit Clustern und verfremdeten traditionellen Formen und Rhythmen vorherrscht. Wenn dann aber zum Kulminationspunkt im dritten und abschließenden Teil eine nicht enden wollende Abfolge von dissonanten Akkorden in infernalischer Lautstärke regelrecht auf die Hörnerven des Publikums einstampft, ist man geneigt, sich einfach die Ohren zuzuhalten und zu hoffen, daß es endlich aufhören möge.
Die von Händl Klaus aus der Romanvorlage herausdestillierten Textfetzen wirken arg manieriert. Das in seiner Informationsfülle wie immer vorzügliche Programmheft gibt den Text vollständig wieder. Man erkennt optisch Reminiszenzen an konkrete Poesie, teilweise kippt auch das Spielen mit Silben und Lauten ins Dadaistische. Als Sprachkunstwerk erscheint das Libretto überambitioniert. Als kreativer Ausgangspunkt hat es beim Komponisten aber offenbar schöpferische Energie freigesetzt und somit seinen Zweck erfüllt.
Die Nebenrollen sind mit einer Ausnahme aus dem Ensemble besetzt. Ausnahmslos alle bewältigen ihre Partien mit erkennbarer Lust und unangestrengt wirkender Selbstverständlichkeit. Alfred Reiter als Vermieter „Herr Zenk“ steht die knorrige Schwärze der tief liegenden Baßpartie sehr gut, Claudia Mahnke zeichnet mit ihrem satten Mezzo als „Frau Greiner“ das Bild eines Mobbingopfers zwischen tiefer Verängstigung und verzweifelter Hoffnung, Michael Porter und Theo Lebow führen mit ihren klaren Tenorstimmen groteske Satzergänzungsspiele auf, Sebastian Geyer gibt maliziös einen Kellner. Für die kleine Rolle der „Frau Bach“ hat man die große Hanna Schwarz gewonnen, die sich uneitel in das Ensemble einfügt. Große Bedeutung kommt den Choreinsätzen zu, in denen eine zwielichtige Masse sich mehr und mehr als zum tödlichen Ende drängender Mob erweist. Hier hat die Oper Frankfurt auf den „Philharmonia Chor Wien“ als Gastensemble zurückgegriffen, weil wohl die parallele Vorbereitung der Choroper „Peter Grimes“ und der Chöre im „Troubadour“ zusätzlich zu der Uraufführung selbst die Kräfte des leistungsstarken Hauschores überfordert hätte.
Anja Petersen (Johanna) und Ensemble
Ohne Mitlesen der Partitur läßt sich immerhin feststellen, daß Gastdirigent Kasushi Ono sich als zuverlässiger Organisator und Koordinator des Klanggeschehens erweist. Zu der staunenswert perfekten Verschmelzung von optischen und akustischen Eindrücken zu einem Gesamtkunstwerk leistet der Dirigent einen erheblichen, wenn nicht den entscheidenden Beitrag.
Dicht, intensiv, visuell überwältigend, musikalisch durchaus reizvoll: So läßt sich der Eindruck von der Uraufführung zusammenfassen. Ein Besuch der Produktion kann empfohlen werden. Gelegenheit dazu besteht dazu noch am 16., 18., 24. und 29. November sowie am 2. und 7. Dezember.
Michael Demel, 14. November 2017
Bilder: Barbara Aumüller