Berlin: „Siegfried“

Ringelreihen der Flüchtlinge

Der neue Ring der Deutschen Oper ist geschmiedet. Mit dem Zweiten Tag der Tetralogie, Siegfried, fand Stefan Herheims Inszenierung ihren Abschluss. Sie bietet die bekannten Bilder der vorangegangenen Teile, die Herheim und seine Bühnenbildnerin Silke Bauer erdachten. Man sieht die hoch getürmte Kofferlandschaft, den Konzertflügel, der sich mehrfach öffnet und schließt, um Personen erscheinen und wieder verschwinden zu lassen, sowie die riesige weiße Stoffbahn, auf welche für Siegfrieds Heldentum die Weltkugel, das Waldweben grüne Blätter und den 3. Aufzug der Feuerzauber projiziert werden (Videos: Torge Møller). Und wie zu erwarten war, sind pünktlich zur Kuss-Szene von Siegfried und Brünnhilde im letzten Aufzug auch die Flüchtlinge wieder zur Stelle. Sie drängen sich dicht um das Paar auf dem Konzertflügel, spenden ihm sogar Beifall und vereinen sich zum Ringelreihen rings um das Instrument. Die Szene wird noch peinlicher, wenn alle in Unterwäsche in unterschiedlichsten Konstellationen und Stellungen kopulieren – ein Paar besonders exponiert auf dem Souffleurkasten an der Rampe. Nach eigener Aussage wollte der Regisseur damit die aktuelle Gender-Debatte bedienen und hat mit dieser lächerlichen Sex-Orgie doch nur für den Tiefpunkt seiner Inszenierung gesorgt.

Noch einige andere Inszenierungsdetails sind befremdlich, so wenn im 2. Aufzug beim Waldweben in der projizierten grünen Baumkrone zwei Engel mit riesigen weißen Flügeln aufscheinen, die mit dem Waldvogel sogar zum Standbild einer Pietà vereint und später beim Liebesduett zwischen Siegfried und Brünnhilde zu Todesengeln mit schwarzen Flügeln werden. Irritierend ist der Schluss der Szene zwischen dem Wanderer und Erda, wenn er der Urmutter scheinbar das Genick bricht und diese leblos niedersinkt. Wird schon der Einfall, fast jede Figur auf dem Tasteninstrument spielen zu lassen, zur Manier, ist die Idee, dass Siegfried und Brünnhilde im Finale immer wieder zum Klavierauszug greifen, geradezu unverständlich. Denn es scheint, dass Siegfried sich fast mehr für die Flüchtlinge interessiert, sich zu ihnen gesellt und ihnen die Noten erklärt, damit Brünnhilde immer wieder allein lässt. Das nimmt der Liebesszene des Paares die Dichte, die Spannung und erotische Steigerung.

Auch musikalisch gehört das Duett zu den Schwachpunkten der Premiere am 12. 11. 2021. Nina Stemme kann mit dieser Brünnhilde nicht an ihre vorherigen Leistungen anknüpfen. Ihr Sopran tremoliert und lässt schneidend scharfe Spitzentöne hören. Das finale C ist kaum mehr als gesungene Note zu goutieren. Auch Clay Hilley als Titelheld hat hier erstmals konditionelle Probleme. Dabei verfügt sein Siegfried sonst über staunenswerte Kraft, so dass das Schmelz- und Schmiedelied ihre Wirkung nicht verfehlen. Im Angesicht von Brünnhilde ist der Tenor auch zu zärtlich-innigen Tönen fähig. Unterschiedliche Eindrücke hinterlässt der Wanderer von Iain Paterson – oftmals matt und konturlos wie zu Beginn der Szene mit Erda. Seine „Wache, Wala!“-Rufe sind kraftlos und entbehren der göttlichen Autorität. Später weiß er sich zu steigern, wohl auch inspiriert durch die glänzende Leistung von Judit Kutasi, die mit gleichermaßen geheimnisvollen wie orgelnden Tönen aufwartet. Ihr Outfit in Plisseerock, Bluse und Strickweste (Kostüme: Uta Heiseke) zählt zu den optischen Entgleisungen der Produktion. Noch schlimmer trifft es Tobias Kehrer, der dem Fafner zwar profunde Basstöne verleiht, als von Siegfrieds Schwert tödlich Verletzter aber im Fat-Suit und in Feinripp-Unterwäsche aus der Höhle hervorkommen muss und einen entwürdigenden Anblick bietet. Dabei besitzt die Szene anfangs mit dem Aufscheinen zweier Riesenpupillen und einem schuppigen Leib durchaus ihren Effekt.

Die Inszenierung hat ihre stärksten und sogar unterhaltsamsten Momente im 1. Aufzug, denn Ya-Chung Huang ist ein agiler Mime (im grau gestreiften KZ-Hemd und mit Wagners Barett), der sich nach anfänglicher Verhaltenheit auch stimmlich steigert und der Partie die gebührende Charakterschärfe verleiht. Ihm sind einige komödiantische Auftritte zu verdanken, so wenn er zu Siegfrieds Schmiedelied den Takt der Hammerschläge mit dem Löffel auf dem Kochtopf nachahmt. Solide bleibt Jordan Shanahan als Alberich in Clownsmaske, achtenswert ist der Versuch, den Waldvogel mit einem Knaben zu besetzen, wie es Wagner ursprünglich beabsichtigte. Sebastian Scherer von der Chorakademie Dortmund lässt einige staunenswerte Spitzentöne hören, findet aber insgesamt nicht zu einer durchgängigen Gesangslinie.

Mit dem Orchester der Deutschen Oper Berlin hat Donald Runnicles beim Siegfried seinen besten Abend, sorgt für Höhepunkte von dramatischer Spannung wie bei den Liedern des Titelhelden im 1. Aufzug oder dem finalen Duett zwischen ihm und Brünnhilde. Deren Erwachenszene, „Heil dir, Sonne!“, stattet er mit leuchtendem Streicherglanz aus, für das Waldweben findet er mit dem Orchester zu impressionistisch flirrendem Klang. Der Dirigent sah sich am Ende – gemeinsam mit den Sängern – vom Premierenpublikum gefeiert. Das Inszenierungsteam zeigte sich nicht.

Bernd Hoppe, 16.11.2021