11.11.2021 (Premiere am 25.11.2018)
Großartiges atemberaubendes Spektakel in moderner gelungener Lichtregie
Erst im Alter von 50 Jahren verfasste Jean-Philippe Rameau 1733 seine erste Oper, eine Tragédie lyrique in einem Prolog und fünf Akten, die noch im selben Jahr an der Académie royale de musique in Paris mit mäßigem Erfolg uraufgeführt wurde. Die literarische Vorlage bildete die Phèdre von Jean Racine auf deren Grundlage Abbé Simon-Joseph Pellegrin (1663-1745) das Libretto verfasste. Gespielt wurde eine Mischung aus drei Fassungen: der ersten von 1733, der dritten von 1757 sowie einer posthumen von 1767 und unter Verzicht des Prologs. Ólafur Elíasson, ein isländisch-dänischer Installationskünstler entwarf die Bühneninstallationen und Kostüme für Rameaus erste Oper, worin er nach eigenen Worten seine persönlichen Erfahrungen in den Berliner Techno-Clubs der 90ger Jahre für die Opernbühne aufarbeiten wollte, denn dort wäre es im Dunst der Nebelmaschinen, unter den Blitzen der Laserkanonen und den halbnackt enthemmt Tanzenden „ausschweifend“ und „barock“ zugegangen.
Für die zahlreichen glitzernden Spiegel dürfte der Spiegelsaal in Versailles Pate gestanden haben, weiße Schweinwerferkegel und grünes Laserlicht versetzten die Betrachtenden in das kalte Ambiente von Nachtclubs. Die Kostüme waren demgemäß auch mit reflektierenden Prismen überzogen und als Augenfang fungierte eine meterhohe Disco-Spiegelkugel sowie Projektionen von Wellenbewegungen, ein Aushängeschild des Künstlers. Olaf Freese hat all diese Ideen des Ausstatters technisch brillant eingeleuchtet. Simon Rattle hat das weltbekannte Freiburger Barockorchester schwungvoll dirigiert, wobei Rameaus expressive Dissonanzen und seine ins Extreme gesteigerte Ausdruckskraft mit häufigen geradezu kühnen chromatischen Modulationen aus dem Orchestergraben besonders leuchtend zum Vorschein gelangten. Und von daher ist auch nachvollziehbar, dass Camille Saint-Saens den unsterblichen Rameau als das größte musikalische Genie, das Frankreich hervorbrachte, bezeichnete. Der 1683 in Dijon geborene Rameau ist nur zwei Jahre älter als Bach und Händel und neben Händel wohl als der größte Opernkomponist jener Zeit anzusehen. Seine meisterhaften Rezitative teilte Rameau in gesungenes Sprechen und sprechendes Singen. Musikalisch gesehen war aber der revolutionäre Schritt, den Rameau vollzog der Austausch der Polyfonie gegen die Harmonie.
In seinem „Traité de l’harmonie“ begründete er die Harmonielehre aus der Obertonreihe und schuf damit die Grundlage für die Musik der nächsten drei Jahrhunderte, an welche später Schönberg und die Zwölftonschule anknüpfen sollten. Im Vergleich zu Telemann oder Händel verfügte Rameau über einen viel größeren melodischen Reichtum sowie eine beeindruckende Kontrapunktik und eine enorme Sinnlichkeit des Klanges. Es wird behauptet, dass Rameau in zwei Takten etwa neun Gefühle ausdrücken konnte…! Im Unterschied zur Vorlage von Racine ist bei Librettist Pellegrin der Gang Theseus in die Unterwelt, begleitet von jeweils 4 Flöten und 4 Oboen, neu. Musikalisch höchst interessant ist auch gegen Ende der Oper die Verwendung von zwei französischen Dudelsäcken. In jedem der fünf Akte der Oper gelangten nach französischer Tradition auch jeweils ein Ballett als Divertissement und der Chor zum Einsatz. Letzterer war von Martin Wright bestmöglich einstudiert. Die britische Regisseurin und Choreografin Aletta Collins setzte starke Akzente in ihrer spannenden Choreografie für das zehnköpfige Ballett, wo die Tanzenden sich den Wellenbewegungen der Musik, der animierten Wellenbewegungen des Wassers und der Lichtstrahlen mit Wonne hingaben.
Beim singenden Personal beschränkte sie sich hingegen auf hehre Schreitbewegungen, die ihren Ursprung womöglich in den antiken Tragödien hatten. Schließlich beruht Racines Phèdre ebenfalls auf einem griechischen Vorbild, nämlich Euripides „Der bekränzte Hippolytos“ (428 v. Chr.). „Barocke Opulenz“ darf man schon auf Grund von Rameaus radikaler Musiksprache hier nicht verlangen oder gar voraussetzen. Neobarock wirkte da nur das glitzernde Gewand der Phèdre und die güldene Verpackung der Aricie, schlicht blieb hier lediglich die Gewandung der Männer. Der haut ténor Reinoud Van Mechelen als Hippolyte und Magdalena Kožená als Königin Phèdre gestalteten den musikalischen und dramatischen Höhepunkt dieser Oper, mit Bravour. Phèdre, die bekanntermaßen in den Sohn ihres totgeglaubten Gatten Thésée, ihren Stiefsohn Hippolytos, verliebt ist, gesteht ihm ihre Liebe. Dieser wiederum bietet ihr Schutz an und gesteht seinerseits seine Liebe zu Aricie, einer Fremden aus dem Stamm der von König Thésée unterworfenen Pallantiden. Diese wird von Anna Prohaska verkörpert, die wie Hippolyte ebenfalls dem Dienst an der Jagdgöttin Diana verpflichtet ist.
Sie überzeugte als sehnsüchtig Liebende mit schillernden Koloraturen als auch als tief Trauernde um Hippolyte, der von den Wogen des Meeres zu Neptun hinabgerissen wird. Der ungarische Bariton Gyula Orendt als Thésée singt herzergreifend ob des Treuebruchs seiner Gattin und seines Sohnes aus erster Ehe, obwohl ihm dies bereits im Hades von Pluto, mit stimmgewaltigem Bass Jêrome Varnier, geweissagt worden war. Als Furie Tisiphone gefiel Benjamin Chamandy, Mitglied des durch die Liz Mohn Kultur- und Musikstiftung geförderten Internationalen Opernstudios der Staatsoper Unter den Linden. Als Göttin Diana rückte Ema Nikolovska, gleichfalls Mitglied des Internationalen Opernstudios der Staatsoper Unter den Linden, als Dea ex machina am Ende der Oper alles ins rechte Lot, indem sie die Liebenden selbstbewusst wieder zusammenführte. In den übrigen Rollen dieser personenreichen Oper gefielen Adriane Queiroz als Œnone, Amme der Phèdre, Evelin Novak in der Doppelrolle der La Grande Prêtresse de Diane und Une Matelote (Matrose), Slávka Zámečníková als Une Chasseresse (Jägerein), Liubov Medvedeva, ebenfalls Mitglied des Internationalen Opernstudios der Staatsoper Unter den Linden, als Une Bergère (Hirte), Michael Smallwood als Mercure, Magnus Dietrich, Arttu Kataja und Frederick Jost (Tenor, Bariton und Bass) jeweils als Parque.
Das hervorragende Ballettensemble rekrutierte sich aus Samuel Dilkes, Bruna Diniz Afonso, Shelley Eva Haden, Daniel Hay-Gordon, Liam Hill, Ben Knapper, Patricia Langa, Stefano Marletta, Natalie Sophia Preidel, Emily Thompson-Smith und Po-Nien Wang. Keinesfalls langweilig waren diese 3 Stunden und 15 Minuten reine Spielzeit, wofür der stürmische Beifall des fast zur Gänze ausverkauften Hauses unter den Linden zeugte. Das Publikum war äußerst beeindruckt von den Leistungen aller Mitwirkenden, wobei der höhensichere belgische Tenor Reinoud Van Mechelen den Sieg einheimste, dicht gefolgt von Magdalena Kožená, Anna Prohaska und Gyula Orendt sowie dem musikalischen Leiter Simon Rattle und dem Freiburger Barockorchester.
Harald Lacina, 12.11.2021
Fotocredits: Karl und Monika Forster