Premiere am 18. August 2018
Open Air auf dem Burgplatz
Ohne Folklore
Nach den Musicals „Hair“ 2016 und „Hairspray“ im Vorjahr gab es nun wieder „große“ Oper im rund 1300 Plätze umfassenden Arena rund auf dem Burgplatz, dem geschichtsträchtigen Ort zwischen Dom und Burg Heinrichs des Löwen. Wie zu Beginn der Open-Air-Events vor 15 Jahren erlebte man erneut „Carmen“, diesmal in einer Inszenierung von Philipp M. Krenn. Er hatte sich für eine Retrospektive entschieden, indem die Handlung mit dem Schluss beginnt und Don José anschließend Traumbilder von der ersten Begegnung mit Carmen an über Lillas Pastias Bar und die Schmuggler-Szenen bis zum tödlichen Ende erscheinen. Dazu hatte Heike Vollmer die Spielfläche – ein herunter gekommener Platz im prekären Viertel Sevillas – mit allerlei scheinbar willkürlich aufgestellten Sitzmöbeln versehen, die variabel eingesetzt wurden, um die Spielorte anzudeuten. Dazu passend hatte Regine Standfuss alle Beteiligten in zeitgenössische, teilweise reichlich trashige Kostüme gesteckt; dabei wurde konsequent jeder Ansatz spanischer Folklore vermieden. Schon zum Vorspiel hielten sich fast alle auf der Spielfläche auf, bis Don José zum drohenden Todesmotiv Carmen erschoss. Nun lief in den genannten Traumbildern das bekannte Geschehen ausgesprochen temporeich ab, in die der Don José wie ein Todesschatten begleitende Lillas Pastia immer wieder eingriff – eine pantomimische Glanzleistung des Schauspielers Mattias Schamberger. Durch die starke Straffung der Dialoge und einige Kürzungen z. B. in der Schlussszene wurde eine enorme Stringenz des Handlungsverlaufs erreicht, die teilweise allerdings in zu viele Aktionen ausartete. Auch gab es überflüssige Albernheiten, als sich beispielsweise die männlichen Schmuggler Frauenkleider anzogen. Manche Abweichungen vom Libretto ließen sich dadurch erklären, dass es sich um Josés Träume handelte; so erschoss er Carmen gleich mehrmals, am Anfang und ganz am Schluss, aber auch jeweils am Ende der beiden ersten Akte. Dass Micaela vom Schuss auf Escamillo fast tödlich getroffen wurde, gehört ebenfalls dazu. Besonders eindrucksvoll gelang das Schlussbild, als die Choristen im Zeitlupen-Tempo um Don José herumtanzten.
Mattias Schamberger/Jelena Kordic/Milda Tubelyte/Jelena Bankovic
Musikalisch gibt es im Ganzen Erfreuliches zu berichten: Braunschweigs GMD Srba Dinić sorgte mit dem in allen Gruppen und den guten Instrumenten-Soli in Bestform aufspielenden Staatsorchester für stets vorwärtsdrängenden Schwung, aber auch für passendes Innehalten in den lyrischen Phasen. Erstaunlich war die klangliche Ausgewogenheit von Chor und Extrachor (Georg Menskes), die trotz der wirbeligen Aktionen beim Singen gut gelang; besonders zu loben ist der von Mike Garling einstudierte, sauber singende und lebendig agierende Kinderchor.
Carmen war Jelena Kordić, die Braunschweig schon wieder verlassen und ein Engagement am Mannheimer Nationaltheater antreten wird. Sie führte ihren volltimbrierten Mezzosopran bruchlos durch alle Lagen und imponierte mit sicheren Höhen, wenn es auch an wenigen Stellen kleinere Intonationsunsicherheiten gab. In ihrer Gestaltung wurde sinnfällig deutlich, dass Carmen nicht die berechnende „Femme fatale“ ist, sondern – jedenfalls anfangs – Don José wirklich liebt und sich erst am Schluss gesellschaftlichen Zwängen beugt, indem sie sich dem Macho Escamillo unterordnen will. Neu im Braunschweiger Ensemble ist der junge Koreaner Kwonsoo Jeon, der als Rollendebüt einen temperamentvollen Don José gab. Bei ihm fiel positiv auf, dass er seinen kraftvollen Tenor differenziert einzusetzen wusste, indem er die lyrischen Teile wie am Ende der „Blumen-Arie“ oder im Duett mit Micaela tonschön auskostete, aber auch über die nötige dramatische Attacke verfügte. Hierbei wird er allerdings darauf achten müssen, dass er nicht ins Forcieren gerät.
Jelena Kordic/Kwonsoo Jeon
Micaela war mit rollengerechter Zurückhaltung Publikumsliebling Ekaterina Kudryavtseva, die durch intonationsreines, geradezu belkantistisches Singen überzeugte. Dass sie in ihrer großen Arie auf Stühlen balancieren musste (aha, wir sind im Gebirge!), war eine der öfter festzustellenden regielichen Übertreibungen. Eugene Villanueva gab Escamillo als unsympathischen Macho; gesanglich wirkte sein Bariton zu undifferenziert. Die unvollkommenen Registerwechsel deuteten darauf hin, dass er mit der tiefen Tessitura der Partie nicht gut zurecht kam.
Ekaterina Kudryavtseva
In jeder Beziehung rollengemäß agierten und sangen Matthias Stier (Remendado) und Maximilian Krummen (Dancairo); wie immer gefiel Milda Tubelytė mit kultiviertem Mezzo als Mercédès, während Jelena Banković als muntere Frasquita klarstimmig die Ensembles überstrahlte. Mit jeweils profundem Bass überzeugten Dominic Barberi (Zuniga) und David Oštrek (Moralès).
Mit lang anhaltendem Applaus bedankte sich das begeisterte Publikum bei allen Beteiligten für die insgesamt sehenswerte Produktion.
Fotos: © Bettina Stoess
Gerhard Eckels 19. August 2018