Vorstellung am 25.10.
Starke Sängerpersönlichkeiten agieren in szenisch biederem Ambiente
Ganze 39 (!) Opern des französischen Romanciers Jules Émile Frédéric Massenet (1842-1912) listet die Internetplattform „Klassika – Die deutschsprachigen Klassikseiten“ auf. Freilich werden davon in heutiger Zeit lediglich ein halbes Dutzend regelmäßig aufgeführt. Darunter eben der „Wérthér“, drame lyrique in vier Akten und fünf Bildern, der am 16. Februar 1892 in der deutschen Fassung des Wiener Musikschriftstellers Max Kalbeck (1850-1921) an der Wiener Hofoper uraufgeführt wurde. Der Grund dafür war, dass der Direktor der Opéra-Comique, Léon Carvalho (1825-97), den „Werther“ zuvor wegen seines düsteren Sujets abgelehnt hatte und nach dem katastrophalen Brand der Opéra-Comique am 25. Mai 1887 an eine Aufführung ohnehin nicht mehr zu denken war, sodass die Wiener Hofoper dankenswerter Weise in die Bresche sprang.
Zweifellos ein wohldurchdachtes Kalkül des damaligen Direktors der Wiener Hofoper, des österreichisch-ungarischen Dirigenten Wilhelm Jahn (1835-1900), denn seit Massenets „Manon“ lag die Wiener Opernwelt dem französischen Meister zu Füßen. Max Kalbeck übernahm also die heikle Aufgabe, aus dem französischen Libretto von Édouard Blau (1836-1906), Paul Milliet (1855-1924) und Georges Hartmann (1843-1900), auf der Grundlage von Johann Wolfgang von Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ (1774), eine deutsche Fassung für die Uraufführung zu erstellen. Der Roman ist insoweit historisch bzw. autobiographisch, als sich ein ähnlich tragisches Schicksal in Goethes engstem Freundeskreis ereignet hatte und der Dichterfürst damals selber eine platonische Beziehung zu einer inoffiziell bereits verlobten Frau, Charlotte Sophie Henriette Buff (1753-1828), unterhalten hatte. Anders als in deutschen Landen waren Goethes Werke in der französischen Oper in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts äußerst beliebt, was etwa Charles Gounod „Faust“ (1859) oder Ambroise Thomas „Mignon“ (1866) belegen. Neben der Tenorfassung gibt es aber auch eine Baritonfassung der Oper „Werther“, die Massenet auf Bitten des Baritons Mattia Battistini (1856-1928), die am 12. April 2012 auch erstmals an der Staatsoper Wien mit Ludovic Tézier in der Titelrolle aufgeführt wurde.
Erst 92 Jahre nach der Uraufführung des Werthers an der Wiener Hofoper (1892) wurde die Oper erstmals in Budapest im Erkel-Theater am 3. März 1984 in einer ungarischen Übersetzung von Tamás Blum gezeigt. Die nunmehr erst zweite Inszenierung von Massenets meistgespielter Oper wird jetzt in Budapest in französischen Originalsprache gezeigt.
Regisseur János Szikora arrangierte die Personen mehr als das er sie führte, was wohl durch das Bühnenbild von Balázs Horesnyi bedingt war. Fünf riesige Teile von Bilderrahmen, gleichsam in L-Form, sind hintereinander in spitzen Winkeln aufsteigend geschlichtet, was wohl perspektivisch die Tiefe des Bühnenraumes zeigen soll. Zwischen diese Rahmen werden dann immer wieder riesige Tableaus im Stile französischer Landschaftsaquarelle hineingeschoben. Mit anderen Worten eine recht sparsame Bühnengestaltung. Dazu gesellen sich dann noch einige Versatzstücke wie ein Tisch und Stühle. Die Kostüme von Alida Yvette Kovács mögen aus der Zeit der Abfassung der literarischen Vorlage von Goethe (1774) stammen. Als Dirigenten hatte man sich für die Premiere den Franzosen Michel Plasson nach Budapest geholt, der gemeinsam mit dem Orchester der Ungarischen Staatsoper die seelischen Gefühle in der Musik Massenets wunderschön zu Erklingen brachte.
Für die Titelrolle hatte man sich den mexikanischen Tenor Arturo Chacón-Cruz, der im Theater an der Wien bereits als Hoffmann (2012) und Jacopo Foscari (2014) reüssiert hatte, nach Budapest geholt. Er ist ein idealer Werther, der nicht in eine allzu weinerliche selbstgefällige Pose verfällt, sondern bis zu den ihm von Charlotte zugewiesenen Schranken um seine Zuneigung kämpft. Atala Schöck verkörperte die angebetete, für Werther unerreichbare, Charlotte als eine von Pflicht ihrem Gatten und ihren wahren Gefühlen für Werther h9n- und hergerissene Frau, die aber aus Rücksicht auf Etikett und Anstand im ausgehenden 18. Jhd. natürlich ihren Mann nie verlassen wird. Ein ähnliche Situation liegt ja auch zwischen Tatjana, Onegin und Fürst Gremin in Tschaikowskys Oper „Eugen Onegin“ vor. Ihr Mezzo klang wunderbar abgedunkelt, fast etwas herb, und so wirkte sie in der Rolle der Charlotte wie eine Getriebene auf der Suche nach einem nicht existierenden Ausweg aus ihrer privaten Misere. Mária Celeng mit ihrem hellen Sopran war eine aufgeweckte, kindisch-verspielte Sophie, die noch in dem Irrglauben verfangen ist, Werther werde sie sicherlich zu einem Tanz auffordern.
Ihre frische Aufgewecktheit kontrastierte dabei ausgezeichnet mit der gefassteren Charlotte und machte zugleich auch verständlich, weshalb Werther keinen Gedanken an die jüngere Schwester verschwendet und ohne Abschied davon eilt. Erst dann scheint Sophie geläutert aus gewandelt. Vorbei ist ihre unbeschwerte Jugend. Mit einem Male ist auch sie erwachsen und unglücklich wie ihre Schwester geworden. Zsolt Haja wirkte in der Rolle von Charlottes Gatten Albert nobel und zurückhaltend und sang solide. Die kleineren Rollen waren mit Tamás Busa als Bailli, János Szerekován als Schmidt, Sándor Egri als Johann, Gergely Irlanda als Brühlmann und Nadin Haris als Käthchen mit stimmlich äußerst soliden und spielfreudigen bewährten Hauskräften besetzt. Einziger Wermutstropfen war der von Gyöngyvér Gupcsó einstudierte Kinderchor, der zu Beginn noch harmonisch sang, am Ende der Oper aus dem Off regelrecht brüllte.
Die Vorstellung wurde vom Publikum allgemein stark akklamiert und die Protagonisten mit einzelnen Bravorufen geadelt.
Fotocredits: Zsófia Pályi