Erich Wolfgang Korngold
Premiere: 25.2. 2017
Vielleicht doch ein Meisterwerk
Gehörte Erich Wolfgang Korngold nicht auch zu den „One-Work-Composern“, die sich mit nur einem Geniestreich in die Operngeschichte eingeschrieben haben? „Die tote Stadt“ ist seit ihrer Wiederentdeckung in den 80er Jahren so etwas wie ein Repertoirestück geworden – der Rezensent kann sich noch an die Sensation erinnern, die die Erstaufführung an der Deutschen Oper Berlin damals bei ihm und beim enthusiasmierten Publikum machte. Herrliche Zeiten…
Doch hat Korngold, den als „Wunderkind“ zu bezeichnen falsch wäre (obwohl er schon als Jüngling erstaunlich reife Werke wie das Ballett „Der Schneemann“ komponierte), mehr als ein schönes Stück geschrieben. Auch „Das Wunder der Heliane“ und „Violanta“ haben ihre Meriten, doch kein Werk hat den Namen Korngolds so befestigt wie „Die Tote Stadt“. An Korngold aber lässt sich eine interessante Beobachtung machen: Große Meister können nicht unter ihrem Niveau komponieren. Das beweisen nicht nur seine hervorragenden Filmscores, die er für Hollywood komponierte, dies beweist auch sein letztes Bühnenwerk. „Die stumme Serenade“ ist kein Meisterwerk, aber man spürt, dass sie nur ein Meister komponiert haben kann.
Korngold hat seine zweiaktige „Komödie mit Musik“, die zugleich Operette, Singspiel und Musical ist, kurz nach dem Krieg geschrieben; uraufgeführt wurde sie 1951: doch nur konzertant (von dieser Aufführung hat sich ein Mitschnitt unter Korngolds eigener Leitung erhalten). Nach der Dortmunder Uraufführung, die erst drei Jahre nach der konzertanten Wiener Premiere und kurz vor Korngolds frühem Tod stattfand, verschwand das Werk von der Bühne. Erst vor etwa 10 Jahren hat man sich in München des Werks erbarmt – und nun kam sie in der Johann-Strauss-Stadt Coburg, die schon deshalb an Korngold erinnert, weil der geniale Komponist einst Strauss‘ Werke bearbeitet hat, wieder hervor.
Gab es damals gute Gründe, das Werk von den Bühnen zu verbannen? Wenn man es mit Theodor W. Adornos Fortschrittsdogma im ideologischen Gepäck ausdrücken möchte: Selbstverständlich! Denn soviel nostalgischer Charme und harmonische Wohltönung gehörte 1951, im Jahr der Darmstädter Kurse und des grassierenden Serialismus, vulgo: Brutalismus á la Boulez einfach verboten, mochte das Premierenpublikum auch über diese musikalisch und dramaturgisch aus der Zeit gefallene Komödie hoch erfreut sein. Die Kritiker waren es nicht: sie nöhlten – und die hübsche Serenade wurde über 50 Jahre lang zur wahrhaft stummen.
Wer allerdings Vergnügen hat an so etwas Kostbarem wie einem charmanten, zugleich wienerischen und pariserischen Mannequin-Quartett, an wundersam seligen, also im tiefsten Grunde wahren und eben nicht lügenhaften Operettenliedern (das bewegendste: „Freund, du lebst vorbei am Glück“), die so talmihaft wie authentisch klingen und den goldenen Geist der Operette der 20er Jahre ganz ungebrochen in die 50er Jahre und noch in die Gegenwart brachten und bringen: der dürfte sich nicht an der akademischen Frage stoßen, wie „modern“ das Stück im Jahre 1951 war. Selbst die Handlung, die auf den ersten Blick reichlich gemeinplätzig anmutet, besitzt bei genauer Betrachtung den satirischen Biss einer Operette immerhin der 30er Jahre. Da geht es in einem halb fantastischen, halb realen Neapel um den Widerstreit zwischen Liebe und Politik in einer Gesellschaft, die anarchistische Bombenleger geradezu provoziert. Da geht es um Todesurteile und lächerliche Diktatoren, um einen Typen, der halb Mussolini, halb Groucho Marx ist. Da geht es, pointiert ausgedrückt, um eine freilich weniger blutige Variante der „Tosca“, um zwei Operettenpaare „hoher“ und „niedriger“ Prägung und um „schicksalhafte“ Eingriffe in eine Handlung, die natürlich in einem Happy end mündet. Doch hätte das Werk früher geschrieben werden können? Vermutlich haben Korngold und seine Librettisten Raoul Auernheimer, William Okie und Bert Reisfeld kurz nach dem Krieg, als Hitler und Mussolini endlich tot waren, durchaus das Rechte getroffen. Die stumme Serenade oder Eine satirische Operette, die vielleicht ein bisschen zu spät kommen musste.
In Coburg kommt sie nicht zu spät – denn die fabelhafte Anna Gütter ist eine Silvia Lombardi (das Objekt der Anbetung des Damenschneiders Andrea Coclé), die mit ihrer fein timbrierenden und leicht edelmetallischen Stimme Korngolds wunderbare Lieder vollkommen bringt. Anna Gütter ist das, was man früher „eine Erscheinung“ nannte: eine capriziös agierende Operettendiva mit menschlichem Antlitz – und einer bezwingenden Stimme. Ihr Lied „Freund, du lebst vorbei am Glück“ – mit dem sie den komischen Diktator, der seltsamerweise ihr Verlobter ist, um den Kopf des Couturiers bittet – gerät zu einem der emotionalen Höhepunkte der denn doch nicht so banalen Komödie, in dem sich die Tiefe unter der Oberfläche verbirgt.
Dass beispielsweise der Modeschöpfer schon schnell einsieht, dass das Amt des Ministerpräsidenten Opfer fordert, die man nicht unbedingt aus Vaterlandsliebe bringen muss, wenn man nicht dazu berufen ist, ist so eine Weisheit, die trivialer daherkommt als sie klingt.
Kein Wunder also, dass Andre Coclé alias Salomón Zulic del Canto sich lieber den Freuden des Modeschöpfens und Minnens hingibt als hinter dem Schreibtisch zu sitzen. Del Canto singt diesen sympathischen Operettentenor selbst dann mit Verve und strahlendem Ausdruck, wenn er vor einer – freilich mit dem Kleid der Geliebten Schauspielerin fetischistisch drapierten – Schaufensterpuppe steht. Dass die Aussprache bei diesem Stück, das doch auch ein Sprechstück (mit den professionellen Mitgliedern der Abt. Schauspiel des Landestheaters Coburg) ist, bei del Canto ein wenig hapert, ist schade, aber unvermeidlich. Auch sog. Große Häuser können diese anspruchsvollen Partien in sprachlicher Hinsicht nicht immer optimal besetzen. Der Operettenfreund erinnert sich gern daran, dass er einmal eine Silvester-Fledermaus in Coburg sah, die eine kurz zuvor besuchte Wiener Aufführung in Sachen Witz und sprachlicher Kompetenz schlichtweg schlug. Von wegen „Provinz“…
In Coburg enttäuscht Tobias Maternas Inszenierung an diesem enorm umjubelten Abend nicht. Hier besann man sich darauf, dass Korngold auch als Filmmusikkomponist in die Geschichte einging – also spielt die Handlung zum einen vor einem (im übrigen von Jan Hendrik Neidert und Lorena Diaz Stephens herrlich gebauten) Kino der 30er, 40er, 50er Jahre. Dass man mit der „Stummen Serenade“ gleichzeitig einen Film dreht, ist dramaturgisch zu vernachlässigen: Die Andeutungen eines Filmsets bringen für die Handlung so wenig wie sie auch nicht stören. Wenn einmal die Illusion gebrochen wird, dann auf ganz andere, wirklich witzige Weise: als sich das Büro des amtierenden Ministerpräsidenten Lugarini dank Hubpodium um ein Stockwerk hebt, um den darunter liegenden Knast samt unmodisch gestreiftem Schneider zu zeigen, schaut der Mann ziemlich blöd aus der Wäsche: Was passiert da gerade? Hat er etwa zu viel getrunken?
So etwas nennt man, glaube ich, sophisticated oder Der Geist der Komödie der 30er, 40er, 50er Jahre.
Heutig aber sind die kabarettistischen Anspielungen auf einschlägige Sprüche des amtierenden US-Präsidenten: „Looser!“ „Die italienische Presse ist ein Feind des italienischen Volkes“ – das gibt natürlich zurecht Szenenapplaus. Thorsten Köhler spielt den Ministerpräsidenten mit dem zahnbleckenden Lächeln eines Wolfs, dem Schnurrbart eines Machos und der Stimme eines sonoren Reibeisens: ein betörend ruppiger Auftritt samt Türenschlagen und In-offene-Türen-hineinbrüllen. Das ist roh, aber gut. Auch Travestie muss sein: Stephan Ignaz macht Laura, die in den Couturier verliebte Geschäftsführerin des Modesalons, als Charlys Tante: souverän, beifallprovozierend, witzig, wie in den 20er Jahren. Das „komische Paar“, das ganz im Stil der Schlagerzeit der 20er singt („Louise, Louise, du hast was…“) und tanzt, hört auf die Namen Sam Borzalino. Wwer dachte sich diese Namen damals eigentlich aus?… Der Klatschreporter und die „Probierdame“ Louise, das sind Dirk Mestmacher und Jelena Banković. Er spielt gut, sie singt besser; zusammen ergeben sie ein Ganzes. Felix Rathgeber ist ein amüsanter und wohltönend singender Sicherheitschef Caretto, und Kerstin Hänel hat die komische Aufgabe, als Kammerfrau Silvia sich vom Ministerpräsidenten die seltsamsten, weil gerade herumliegenden Gegenstände schenken zu lassen. Was wohl heißen soll: Zwischen Mussolini und einem testosterongesteuerten Berlusconi scheint kaum ein Unterschied zu bestehen…
Und „Die letzte Nacht“? Das amouröse Abschiedssouper, das Bekenntnis der Operettendame „Ich bin zum ersten Mal verliebt“? Auch dies klingt ganz superb. Korngold hat seine Partitur für ein winziges Kammerorchester von nur 8 Musikern eingerichtet. Unter der Leitung Roland Fisters blüht der bekannte, aus Gold und Silber gewirkte Korngold-Klang aus dem Graben auf: samt Klavier und Celesta. Ja, „Die stumme Serenade“ ist ein feines Werk. Sie ist, wie gesagt, kein Meisterwerk – aber je länger der Operettenfreund darüber nachdenkt und den Abend wirken lässt, desto mehr kommt er zur Überzeugung, dass Werke, die von Meistern komponiert werden, unmöglich nicht Meisterwerke sein können. Man muss sie „nur“ adäquat, also mit Charme, Kompetenz und Witz auf die Bühne bringen.
So wie am Landestheater Coburg.
Ps: Auch die Freunde der „Toten Stadt“ dürfen am Abend einmal schmunzeln. Da verkündet die kesse Pariserin Louise vor dem Gericht – das gleich den Schneider aufgrund des Frauenraubs, genauer: des Kussraubs (der in einer entzückenden und durchaus erotischen Szene – wie gesagt: Anna Gütter ist eine „Erscheinung“ – quasi rekonstruiert wird) – zum Tode verurteilen wird, dass Paris eine „Tote Stadt“ wäre, würde man alle Frauenräuber zum Tode verurteilen. Und schwupps! wird die Szene in Blaulicht getaucht, bevor die gesamte Mann- und Frauschaft zu summen beginnt: „Mein Sehnen, mein Wähnen…“
Es muss also nicht immer „Glück, das mir verblieb“ sein…
Frank Piontek, 26.2. 2017
Fotos: Andrea Kremper.