Coburg: „Dido and Aeneas“ und „Riders to the Sea“

Weibliche Albträume

Premiere: 18.06.2016

Lieber Opernfreund-Freund,

vielleicht fühlt man sich in Coburg deshalb dem englischen Musiktheater so verbunden, weil Albert, der Gatte der englischen Königin Victoria, von hier stammte. Schon in der Spielzeit 2013/14 hatte man hier in Oberfranken dem Gluckschen „Orfeo ed Euridyke“ die nahezu vergessene Kammeroper „Sāvitri“ von Gustav Holst zur Seite gestellt und präsentierte am vergangenen Samstag die gelungene Kombination von Henry Purcells „Dido and Aeneas“ aus dem Jahr 1689 mit dem 1937 uraufgeführten „Riders to the Sea“ des in unseren Breitengraden allenfalls als Sinfoniker und Liedkomponist bekannten und geschätzten Ralph Vaughan Williams. Bei aller Unterschiedlichkeit der beiden Werke lassen sich doch genügend Gemeinsamkeiten finden, um diese Paarung als durchaus gelungen zu bezeichnen: Beide Werke stammen von englischen Komponisten, beide wurden in eher laienhaftem Rahmen uraufgeführt – Purcells Werk wurde an einem Pensionat für Edelfräulein in Chelsea, Vaughan Williams‘ Oper 1937 von Studenten aus der Taufe gehoben – beide Werke haben thematisch mit dem Meer zu tun und behandeln den schmerzlichen Verlust eines geliebten Menschen: Die Titelheldin bei Purcell, Dido aus Vergils „Aeneis“, verliert ihren geliebten Aeneas ebenso an das Meer wie Maurya, die Mutter aus „Riders to the Sea“ ihren Mann, ihren Schwiegervater sowie all ihre Söhne.

Der junge Regisseur Tobias Heyder versucht dennoch nicht, den beiden Opern mit Gewalt eine künstliche Klammer zu geben, sondern zeigt sie als eigenständige Werke. Dabei wählt er jeweils einen Einheitsbühnenraum auf von Tilo Steffens mit wenigen Requisiten genial entworfener, schräger Bühne, auf der bei Purcell Didos Bett dominiert. Denn das Schicksal der Gründerin Karthagos, die Liebe zu Aeneas, die ihr Halt zu Geben scheint, sowie der Abschied von ihm, der sie in dermaßen große Verzweiflung stürzt, dass sie stirbt, zeigt er als Albtraum. Die Traumwelt Didos ist bevölkert von einer skurril anmutenden Zirkustruppe, die einem Fellini-Film entsprungen sein könnte und von Verena Polkowski in so zauberhaft verträumte wie alptraumhafte Kostüme gesteckt wurde. Die Zauberin und die Hexen, die der Königin ihr Glück nicht gönnen und eine Intrige spinnen, erscheinen gleichsam als Alter Egos von Dido und ihren beiden Dienerinnen, allerdings in schwarz gekleidet, blutverschmiert und mit jokerhaftem Grinsen. Hier geht es nicht mehr um die vordergründige, von Vergil erzählte Geschichte, sondern um das innere Dilemma einer Frau, die, zur Witwe geworden, mit sich selbst um ein neues Glück mit einem neuen Partner ringt, um ihre Unsicherheit und ihre Ängste und ihren letztendlichen Entschluss, trotz aller Gefühle für einen anderen Mann und aller Sehnsucht nach Zweisamkeit, alleine zu bleiben – eine wahrlich fesselnde Lesart, die das musikalische Team trefflich umzusetzen weiß.

Zwar hat die Art des Musizierens wenig mit der so genannten „historisch geschulten Aufführungspraxis“ zu tun, zu beschwingt, zu blumig ist das Dirigat von GMD Roland Kluttig, und erinnert eher an die weichgespülte Aufnahme des Werkes, die in den 1950er Jahren unter Benjamin Britten mit Claire Watson für die BBC entstand, als das, was man seit Ende des 20. Jahrhunderts von Nikolaus Harnoncourt & Co. gewohnt ist. Da gibt es eher romantisch anmutende Ritardandi denn nüchtern zurückhaltende Barockmusik, doch meines Erachtens kann man heutzutage ein barockes Werk noch immer so präsentieren, sollte allerdings zumindest in den Schlüsselmomenten einen Gang zurückschalten, um die Musik ihre Wirkung entfalten zu lassen – und das gelingt Kluttig nicht immer. Abstriche muss man leider auch bei der Interpretin der Titelheldin machen. Ensemblemitglied Verena Usemann verfügt über eine wunderbare Stimme mit intensiven Nuancen und präsentiert nach anfänglichen Intonatiosschwierigkeiten, die sicher dem Premierenfieber geschuldet sind, eine entschlossene und starke Frau. Das passt zwar zu Kluttigs musikalischer Interpretation, allerdings ist mir ihre Stimme für die Dido als verwundete wie verwundbare Frauenfigur fast zu groß. So verpufft die Wirkung des Lamento, da die durchaus talentierte und genial schauspielernde Sängerin nicht einmal da ein Piano findet. Schade. Ihr „inneres Gegenstück“, Gabriela Künzler als Zauberin, spielt überzeugend auf und weiß ihrem Mezzo beinahe androgyne, bedrohliche Farben beizumischen, die bezaubernde Belinda von Ana Cvetkovic-Stojnic überzeugt mit ebenso einfühlsamem, farbenreichem Sopran wie Nadja Merzyn als 1. Hexe, Stefanie Schmitt als zweite Frau und ihr Pendant Heidi Lynn Peters als zweite Hexe sind einfach wunderbar. Vom Opernstudio Weimar ausgeliehen und ab der kommenden Spielzeit festes Ensemblemitglied in Coburg ist der 29jährige Salomón Zulic del Canto – und als Aeneas eine echte Entdeckung. Sein geschmeidiger Bariton ist wie gemacht für den smarten Helden, der Didos Herz erobert, und macht den jungen Sänger zu einer meiner persönlichen Überraschungen des Abends. Bravo! Jan Korab glänzt in seinem kurzen Auftritt als Seemann, warum man aber die klangschöne Stimme von Luise Hecht als Geist durch blechern klingende Lautsprecher einspielen muss, wo man die Sängerin doch gut und durchaus sinnvoll unter den Gauklern hätte platzieren können, bleibt mir ein Rätsel. Wahrlich als zusätzliche Person nach barockem Vorbild tritt der von Lorenzo Da Rio gründlich einstudierte Chor auf und überzeugt nicht nur stimmlich sondern auch darstellerisch und bildet – ein toller Regieeinfall – an so mancher Stelle an Renaissancegemälde erinnernde Kulisse.

Hat mir der erste Teil des Abends bei aller Begeisterung noch den einen oder anderen Wermutstropfen beschert, konnte der zweite auf ganzer Linie überzeugen. Die Partitur von Ralph Vaughan Williams kommt naturgemäß wesentlich schroffer und düsterer daher als Purcells Werk und scheint Roland Kluttig und dem Philharmonischen Orchester des Landestheaters Coburg auch mehr zu liegen. Hier können sich die Musiker in schwelgerischen Bögen ebenso suhlen, die den schicksalshaften Wogen des Meeres gleich aus dem Graben erklingen, wie die Passagen auskosten, die beinahe an Filmmusik erinnern oder von fast groben Dissonanzen geprägt sind. In Ralph Vaughan Williams‘ Werk, dessen Libretto er fast wörtlich dem gleichnamigen Stück des Iren John Millington Synge entnommen hat, leben Maurya und ihre Töchter Cathleen und Nora auf einer Insel vor der Westküste Irlands. Maurya hat nicht nur ihren Mann und Ihren Schwiegervater an das Meer verloren, auch vier ihrer sechs Söhne sind beim Fischen ertrunken. Nun wird ihr Sohn Michael seit mehr als einer Woche vermisst und Sohn Bartley schickt sich an, mit dem Pferd aufs Festland überzusetzen, um es dort zu verkaufen. Die Mutter kommt um vor Sorge und weiß noch nicht, dass ein Priester die Kleidung von Michael an die beiden Töchter übergeben hat. Sie wurde an Land gespült. Sie macht Bartley Vorwürfe und er geht ohne Proviant und ohne Abschied. Die Töchter überzeugen die Mutter, dem Sohn nachzugehen. Sie berichtet nach Ihrer Rückkehr, sie habe die Söhne Michael und Bartley zusammen auf zwei Pferden gesehen. Just als die Töchter ihr sagen, dass das unmöglich ist, weil Michael tot ist, tragen Männer die Leiche von Bartley herein: Das Fohlen hatte ihn von der Klippe gestoßen und er ist ertrunken.

Die Trostlosigkeit der Situation der Inselbewohner zeigt sich nicht nur in düsteren Orchesterfarben und der schwarzen und grauen Kleidung. Die Frauen sind mit dem Falten von Männerwäsche beschäftigt, die ihren verstorbenen Brüdern und Kindern gehörte. Die lange Tafel, die einmal elf Erwachsenen Platz bot beherrscht das Bühnenbild. Die Verstorbenen sind so omnipräsent, die Hinterbliebenen können nicht loslassen. Die Frauen sind hin- und hergerissen zwischen Hoffnung, Verzweiflung und Trauer. Jede versucht auf ihre Art, mit dem Schicksal umzugehen: Maurya scheint ihr Schicksal schlicht anzunehmen und zu ertragen und findet in Kora Pavelic eine geniale Sängerdarstellerin, die der Mutter mit unvergleichlicher Intensität und Wahrhaftigkeit Leben einhaucht – stimmlich wie darstellerisch. Wow! Ensemblemitglied Anna Gütter verkörpert im wahrsten und besten Wortsinn Nora, die am verzweifelsten scheint. Nadja Merzyn, ebenfalls im Ensemble des Landestheaters, ist Cathleen, die erst dann ihre Verzweiflung und Trauer zu zeigen vermag, als der Tod des sechsten Bruders traurige Gewissheit ist. Auch bei diesem Werk zeigt sich das Talent von Tobias Heyder, ohne viel Schnickschnack auf das Wesentliche zu reduzieren und eine besondere Form des Realismus zu erzeugen, die einem unter die Haut geht. Salomón Zulic del Cantos Auftritt als Bartley ist hier vergleichsweise kurz, doch zeigt der junge Chilene eine ganz andere, nicht weniger überzeugende Stimmfarbe als noch als Aeneas eine halbe Stunde zuvor. Tomoko Yasumura und Joanna Star ergänzen als Chorsolisten in kleinen Rollen.

Das Publikum, das wohl Fussball-EM- und sonnenscheinbedingt nicht ganz so zahlreich erscheinen ist, applaudiert begeistert und zu Recht, zeigt sich doch an diesem Abend, wie viel es wert ist, wenn ein Theater den Nachwuchs fördert – und fordert. Das Landestheater Coburg erweist sich als regelrechte Talentschmiede und der Zuschauer bekommt dank dieses Ansatzes von Intendant Bodo Busse einen durchaus lohnenden Abend geboten mit jungen, frischen, engagierten Sängern voller Spielfreude und einer überzeugenden Regie. Bleibt zu hoffen, dass den folgenden Aufführungen mehr Besucherzuspruch zuteil wird – EM hin oder her. Zur Not besuchen sie eben eine Aufführung in der kommenden Spielzeit – denn da wird die Produktion wiederaufgenommen!

Ihr Jochen Rüth / 20.06.2016

Die Bilder stammen von Andrea Kremper.