Bericht von der zweiten Aufführung am 29. September 2017
(Uraufführung am 16. September 2017)
Ein Schönerland für diese Zeit
Manche Operneindrücke müssen reifen. War diese neue Oper zum Thema „Flüchtlingskrise“ jetzt politisch korrektes Thesentheater mit aufdringlicher Botschaft und wohlfeilem Zeitbezug? Schon bei der Lektüre des Programmhefts vor der besuchten Vorstellung hat der Kritiker sich seine Lieblingssentenzen zurechtgelegt: „Gut gemacht“ und „gut gemeint“ sind unüberbrückbare Gegensätze. Kunst kommt von „können“; käme sie von „wollen“, so hieße sie „Wunst“. Diese Sentenzen bleiben aber im Giftschrank. So gerne der Kritiker sie verwendet hätte, so ungerecht wären sie. Denn bereits mit den ersten Takten im knackig ratternden Vierviertelrhythmus haben sich die Befürchtungen zerschlagen, wieder einmal mit Neue-Musik-Mainstream gequält zu werden, also mit Clustern unterschiedlicher Färbung und zerklüfteten Intervallsprüngen in den Gesangsstimmen. Vielmehr wird die von Søren Nils Eichberg (Jahrgang 1973) erdachte Musik von einer Haltung bestimmt, die man „Post-Moderne“ nennt. Es gibt offenbar eine Einteilung der Partitur in Takte, keine Scheu vor Tonalität sowie Reminiszenzen an die tradierte Harmonielehre. Der Hörer findet also Ankerpunkte, an denen er sich musikalisch orientieren kann, ohne die Partitur vor Augen haben zu müssen. Es gibt wunderbar ausdruckskräftige Chorpassagen, bei denen Benjamin Britten Pate gestanden hat, und sogar ariose Stellen für die Solisten. Ab und an wird Populärmusik beigemischt und geschickt verfremdet. Mal klingt das regelrecht süffig, mal ironisch, etwa wenn das titelgebende Volkslied („Kein schöner Land in dieser Zeit“) zunehmend schräger und verunsicherter auf unterschiedlichen Tonhöhen angestimmt wird oder wenn es als Untermalung zu einer Szene mit deutschen Trachten- und Oktoberfestklischees aus dem Orchestergraben zünftig im Dreiertakt herausschrammelt.
Die Musik trägt so ganz wesentlich dazu bei, daß die 95 Minuten, die dieses Werk dauert, tatsächlich wie im Fluge vergehen. Die unverkrampfte Herangehensweise des Komponisten prägt auch den Eindruck, den Libretto und szenische Umsetzung hinterlassen. Therese Schmidt hat einen Text erstellt, der das Thema „Flucht“ unter dem Aspekt des Verlusts der alten Heimat und der Suche nach neuer Heimat beleuchtet. Es wird also über weite Strecken wohltuend auf platte Anklagen etwa gegen eine versagende politische Klasse oder gegen hartherzige Wohlstandseuropäer verzichtet. Daß man vom ursprünglichen Plan Abstand genommen hat, per Bandeinspielung Politikerreden oder fremdenfeindliche Parolen beizumischen, war eine gute Entscheidung. Gezeigt wird vielmehr, was die erzwungene Aufgabe einer Heimat für Flüchtende bis hin zum Verlust der eigenen Individualität bedeutet, wie sich die Ungewißheit über den Ausgang der Flucht mit Hoffen und Bangen verbindet und wie sich Fremdheit im sicheren „Schönerland“ anfühlt. Das gelingt mitunter sehr anrührend und eindringlich. Gegen den Vorwurf, daß hier das reale Leid von Menschen zu Zwecken beifallheischender und selbstgerechter Kunstproduzenten mißbraucht wird, hat sich das Libretto geschickt imprägniert, in dem es dies selbst thematisiert.
Als zweite Handlungsebene sind nämlich Szenen in das Flüchtlingsdrama eingewoben, in der ein „Intendant“, ein „Komponist“ und eine „Stückeschreiberin“ antreten, um über die Flüchtlingskrise eine Oper zu produzieren, „die die Welt verändert“. Gerade der Intendant wird dabei als Zyniker gezeichnet, der nach einem Casting mit einem Flüchtling von dessen Schicksal völlig unbeeindruckt ist und ihm trocken versetzt: „Wir melden uns.“ Hier verschränkt die Wiesbadener Produktion Bühne und Wirklichkeit, denn der Flüchtling, der nur „der Syrer“ heißt, wird von einem leibhaftigen, aus Syrien Geflüchteten dargestellt (Feras Zarka), der einfach nur sich selbst spielt.
Aus dem durchweg überzeugenden Ensemble ragen Eleni Calenos als „Saida“ und Andrea Baker als „Kader“ heraus. Die Calenos nutzt die ihr vom Komponisten gegönnten ariosen Stellen mit blühend-glühendem Sopran zu eindringlichen Momenten der Sehnsucht und der schmerzvollen Erinnerung. Andrea Baker dagegen setzt mit üppig-ausladendem, gutturalem Mezzo Gegenakzente der Ernüchterung. Aaron Cawley als „Dariush“ zeigt zwar staunenswerten Körpereinsatz beim Stuntman-reifen Erstürmen steiler Rampen, tut sich aber immer wieder mit den Höhenlagen seiner Tenorpartie erstaunlich schwer.
Diese Rampen, welche herauf zu Containern führen, bestimmen das Einheitsbühnenbild von Volker Hintermeier, indem Johanna Werber das Stück unprätentiös über weite Strecke als eine Art szenisches Oratorium zeigt. Das wirkt nicht zuletzt deswegen werkadäquat, weil weniger eine durchgehende Handlung zu bebildern ist. als vielmehr eine Abfolge von Tableaus. In diesen Tableaus kommt dem Chor eine herausragende Rolle zu. Albert Horne hat ihn gut vorbereitet und sinnvoller Weise wie schon bei „Peter Grimes“ die musikalische Gesamtleitung übernommen. Wenn die musikalische Qualität der Partitur den Kritiker also überzeugt hat, so hat der im Orchestergraben umsichtig agierende Dirigent daran den Löwenanteil.
Aus dem Abstand von mehreren Wochen läßt sich das Resümee ziehen: Mit „Schönerland“ hat das Staatstheater Wiesbaden keine Opernrevolution angezettelt, sondern handwerklich sauber gearbeitetes Musiktheater präsentiert, das auch für Liebhaber traditioneller Opernaufführungen gut zu bewältigen ist und das Publikum fordert, ohne es zu überfordern. Undogmatische Komponisten wie Eichberg gehen schon länger einen Weg bei der Erneuerung des Repertoires, der aus der Sackgasse immer elaborierterer Neuschöpfungen für eine immer kleiner werdende Elite von Eingeweihten herausweist. Dabei müssen nicht immer Jahrhundertwerke herauskommen. Eine schlüssige Produktion, die Tradition und Innovation, Emotionen und Nachdenklichkeit geschickt mischt wie dieses „Schönerland“, ist allemal eine willkommene Abwechslung im bundesweiten Spielplaneinerlei der immergleichen Erfolgsstücke vergangener Zeiten.
In dieser Spielzeit ist die Produktion noch am 19. und 25. Oktober zu erleben.
Michael Demel, 18. Oktober 2017
Bilder: Karl und Monika Forster