Pietro Mascani / Pierantonio Tasca
Premiere: 01.04.2017
Trüffelfund in Dessau
Lieber Opernfreund-Freund,
abseits gewohnter Spielplanpfade bewegt sich erneut das Anhaltische Theater in Dessau und hat zusammen mit Mascagnis „Cavalleria rusticana“, die seit ihrer Uraufführung 1890 bis heute zu einer beim Publikum beliebtesten und wohl deshalb meist gespielten Opern gehört , die Ausgrabung „A Santa Lucia“ von Pierantonio Tasca präsentiert und diesem musikalischen Kleinod damit zur ersten Aufführung seit mehr als 100 Jahren verholfen.
Das Werk wurde 1892 im Rahmen einer Tournee der damals außerordentlich erfolgreichen Sopranistin Gemma Bellincioni, die die Santuzza der Uraufführung von Mascagnis „Cavalleria“ gewesen war, am Krolltheater in Berlin uraufgeführt und in der Folge an Theatern in ganz Europa rund 100 mal gezeigt. Mit dem Bühnenabschied der Sängerin, die sich gleichsam als Geburtshelferin zahlreicher, dem Verismo-Stil verpflichteter Opern verdient gemacht hatte, von denen einem heute allenfalls Giordanos „Fedora“ noch etwas sagen dürfte, versank auch Tascas Werk in der Versenkung. Die Sujets der beiden jeweils gut eine Stunde dauernden Opern haben nur bedingt Parallelen. Tascas „A Santa Lucia“ auf der Grundlage des Schauspiels von Goffredo Cognetti erzählt die Geschichte des neapolitanischen Fischers Ciccillo und der in armen Verhältnissen lebenden Rosella, die ein gemeinsames Kind haben, zu dem sich Ciccillo aber nicht bekennt. Der war schon als Kind mit der aus wohlhabenderen Kreisen stammenden Maria verlobt worden, die von Eifersucht zerfressen ist und versucht, einen Keil zwischen das Paar zu treiben. Als Ciccillo für ein Jahr auf Seefahrt geht und sein Vater Totonno Rosella bei sich aufnimmt, sich in sie verliebt und dies ausgerechnet Maria gegenüber erwähnt, berichtet diese Ciccillo direkt nach dessen Rückkehr vom angeblichen Verhältnis seines Vaters und seiner Geliebten. Ciccillo bezichtigt Rosella der Untreue, verstößt sie und treibt die Verlassene dadurch in den Selbstmord. In beiden Werken geht es, eingebettet in volksnahes Milieu, um Eifersucht mit tragischem Ausgang, um aus der Gesellschaft ausgegrenzte Frauen, die auf Liebe hoffen und um Rache durch Denunziantentum. Doch während Santuzza noch auf ein Glück mit Turridu hofft, hatte Rosella dieses mit Ciccillo gefunden, auch wenn der sie nicht heiraten kann.
Regisseur Holger Potocki findet für seine überzeugende Interpretation dennoch einen ganzheitlich verbindenden Ansatz. Er siedelt die Handlung in nahezu zeitloser, trist gehaltener Kulisse einer Mole am Hafen an. Alle sind in Schwarz und Grau gehüllt, die Tristesse ihres Daseins wird scheinbar nur von ihrer Religion und ihrem Glauben erhellt, denn der Klerus kommt in Rot daher. Rot ist auch das Haar von Lola, die blonde Santuzza wird von der Gemeinschaft als ledige Schwangere ausgegrenzt. Sie muss deshalb unbedingt erreichen, dass Turridu sie nimmt, statt sich wieder seiner Geliebten zuzuwenden. Als dies nicht gelingt, verrät sie Alfio von den Eskapaden seiner Frau, wird verrückt und träumt das fatale Ende. Verlassen und dem Wahn verfallen, sieht sie ihr Heil nur im Freitod. Der Bühnenaufbau in Tascas Werk ist zu Beginn offener (Bühne: Lena Brexendorff), auch die wunderbaren bonbonfarbenen Kostüme von Katja Schröpfer sind lebensbejahend. In die heile Welt der improvisierten Familie von Ciccillo und seiner rothaarigen Rosella, kommt die Ausweglosigkeit erst durch die Intrigen der blonden Maria. In den Intermezzi, die es in beiden Werken gibt, verwandelt sich die Protagonistin in Videoeinspielungen, für die Markus Schmidt verantwortlich zeichnet, in die jeweilige Rivalin: die blonde Santuzza wird rothaarig, die rothaarige Rosella blond. So schließt sich der Kreis auch im eindrucksvollen Schlussbild von „A Santa Lucia“, das dem Blick auf die Szenerie der „Cavalleria rusticana“ gleicht, als sich am gestrigen Abend erstmals der Vorhang gehoben hatte. Dem zwischen den Szenen von Scheinwerfern geblendetem Publikum wird während des ganzen Abends eine Art Diashow präsentiert, ein Kaleidoskop der menschlichen Begehrlichkeiten, mit allen Zutaten, die die Suche nach Liebe und die Enttäuschung derselben mit sich bringen kann. Ein szenisch eindrucksvoller Abend mit Wow-Effekt.
„Wow“ ist auch die künstlerische Umsetzung. Das Ensemble des Anhaltischen Theaters braucht sich am gestrigen Abend nicht vor großen Häusern verstecken. Ganz ohne Gäste stemmt das hauseigene Team diese beiden Werke, allen voran die beiden Damen Iordanka Derilova und Rita Kapfhammer. Kammersängerin Derilova ist eine Sängerdarstellerin erster Güte, überzeugt als Santuzza mit großem Ausdruck in deren Ausbrüchen und gibt die Verzweifelte ebenso enthusiastisch wie die lieblichere Rosella in Tascas Werk, als die sie auch zu großen Lyrismen fähig ist. Rita Kapfhammers voller Mezzo klingt für Mama Lucia fast ein wenig jung. Bei Holger Potocki im Rollstuhl sitzend, muss sie sich bei ihrer Darstellung auch ganz auf die kleine Geste und ihre ausdrucksvolle Mimik verlassen. Zu Höchstform auflaufen kann sie dagegen als intrigante Maria, zeigt schneidend-eindrucksvolle Höhen genau so wie Angst einflößende Bruststimme. Seit dieser Spielzeit neu im Ensemble ist Ray M. Wade jr., den ich schon vor Jahren öfter in Köln habe erleben dürfen. Gestern brillierte er mit sattem Schmelz und sicherer Höhe, gab den Turridu wild entschlossen und den Ciccillo säuselnd-verliebt und zeigte so alle Facetten seines reichen Tenors. Kammersänger Ulf Paulsen schien sich im Werk Tascas wohler zu fühlen. Der auf Liebe hoffende Austernfischer Totonno liegt ihm und seinem edel klingenden, satten Bariton auch mehr als der Haudegen Alfio in Mascagnis „Cavalleria“. Cornelia Marschall stand mit großer Spielfreude und farbenreichem Sopran parat und war als kokette Lola und mitfühlende Freundin Concettina zu erleben. Cezary Rotkiewicz fiel da mit eher dünnem Bass als Intrigant Tore ein wenig ab, während David Ameln seinen feinen Tenor leider nur kurz als Fischer hören lassen durfte.
„Cavalleria rusticana“ ist eine ausgesprochene Choroper und auch in Tascas „A Santa Lucia“ ist die Chorpartie umfangreich. Die von Sebastian Kennerknecht genau vorbereiteten Damen und Herren überzeugen da wie dort und machen den Abend klanglich zu einem ausgewogen-runden Erlebnis. Der von Dorislava Kuntscheva betreute Kinderchor tut ein Übriges dazu, dass der Abend vollends gelingt. Nicht unerwähnt bleiben soll auch die hinreißende kleine Lenia Cosima Berg, die das Kind Rosellas allerliebst verkörpert. Aus dem Graben tönt es durchaus italienisch. GMD Markus L. Frank spielt beschwingt auf und spornt die Anhaltische Philharmonie Dessau zu Höchstleistungen an. Dabei trumpft er bisweilen so wuchtig auf, dass er da und dort die Sänger übertüncht. Er zeigt jedoch im stellenweise fast sinfonisch angelegten Mascagni so viel Prägnanz wie Gefühl und vermittelt in Tascas Oper durch die eingewebten Tarantella-Rhytmen und Mandolinenklänge stimmungsvoll neapolitanisches Lokalkolorit. Das Werk von Pierantonio Tasca verfügt über schillernde Melodien und gefühlsbetonten Ausdruck, kommt durch immer währende Takt- und Harmoniewechsel allerdings nicht so sehr in Fluss und erscheint deshalb nicht so aus einem Guss wie der vielleicht deshalb bis heute erfolgreichere Mascagni. Dennoch ist „A Santa Lucia“ eine durchaus hörens- und erlebenswerte Oper, das ich mir gerne öfter auf den Spielplänen wünsche.
Dem Publikum in Dessau ging es am Ende wohl ähnlich, regelrecht begeistert sind selbst die Zuschauer, die während der Aufführung ihrem Störgefühl über die Lichtblendungen mitunter noch murmelnd und ächzend Gehör verliehen hatten, und zollten allen Beteiligten ausgiebig Applaus. Zu Recht! Genießen Sie diese Symbiose aus bewährtem Gassenhauer und wiederentdecktem Schatz noch bis in den Juni hinein, lobenswerterweise ausnahmslos an Sams- und Sonntagen, so dass sich auch ein Besuch von auswärts lohnt, den sie im herannahenden Frühling gut mit einer Stippvisite im Gartenreich Dessau-Wörlitz verbinden können, zu der ich mich jetzt selbst begebe.
Ihr Jochen Rüth / 02.03.2017
Die Fotos stammen von Claudia Heysel.