Premiere: 01.06.2018
Nach 180 Jahren wieder zu hören
Lieber Opernfreund-Freund,
meine Raritätenjagd hat mich nach Erfurt geführt, wo man seit gestern mit einer wahren Sensation aufwartet. Erstmals seit 180 Jahren wird dort Gaspare Spontinis Oper „Agnes von Hohenstaufen“ auf Deutsch gegeben, dazu erklingt zum ersten Mal seit 1837 die anspruchsvolle Ouvertüre des Werks, die bei der Wiederentdeckung und -aufführung in den 1950er Jahren in Italien noch verschollen war. Dass ich das schöne Erfurter Haus mit gemischten Gefühlen verlasse liegt vor allem an den Schwächen beim Tenor und am Taktstock. Aber der Reihe nach…
Gaspare Spontini, aus Italien stammend und vor allem an der Pariser Oper Erfolge feiernd, hatte ein Faible für fremdländische Stoffe. In seiner „Vestalin“ hatte er ein Sujet aus dem alten Rom vertont, im „Fernando Cortez“ zwei Jahre später ein mexikanisches. 1820 war er nach Berlin gekommen und hatte dort 1827 die erste Version seiner Vertonung des urdeutschen Agnes-Stoffes aus der Taufe gehoben, der er bis 1838 noch zwei Umarbeitungen angedeihen ließ. Den Inhalt der Oper wiederzugeben, gestaltet sich ein wenig schwierig und sie werden gleich sehen, warum: Heinrich VI., deutscher Kaiser aus dem Hause der Staufer, und Heinrich der Löwe, von Haus aus Welfe, liegen 1194 im Clinch um die Vorherrschaft im deutschsprachigen Raum. Heinrich, der Sohn des Letztgenannten, liebt Agnes, die Nichte des Erstgenannten, und ist Freund und Blutsbruder von Philipp, dem Bruder des Kaiser-Heinrichs. Der französische König, der ebenfalls Philipp heißt, aber zusätzlich den August im Namen führt, möchte Agnes freien und kommt deshalb als angeblicher Bote seiner Selbst an den Rhein. Nach heimlicher Heirat des Liebespaares, Duell und Kriegswirren unterwirft sich der Heinrich dem Heinrich und stellt so sicher, dass Heinrich und Agnes zusammenbleiben können. Philipp – der mit dem August – verzichtet und Philipp ist froh, dass sein Freund lebt und am Rhein bleiben darf. Auch Agnes‘ Mutter, die ganz anders heißt – nämlich Irmengard, ist glücklich, dass ihre Tochter glücklich werden kann.
Ein echter Historienschinken schon zu seiner Entstehungszeit also, aber damals in Berlin durchaus en vogue, eine Mischung aus Grand Opéra, deutscher Frühromantik und Nationaloper, voll gestopft mit reichen Melodien und interessant klingenden Harmonien hat Gaspare Spontini da erschaffen und genau diese Mixtur ist problematisch. Neben überaus gelungenen Stellen wie der Ouvertüre, dem fulminanten Finale des zweiten Aktes, wunderbaren Kantilenen und den ausufernden Chorszenen ersinnt der Italiener beinahe konfus wirkende und deshalb nahezu unsingbare Ensembles, die einer stringenten Führung im Graben bedurft hätten. Doch dort kommt es schon während der wunderbaren Ouvertüre zu ersten Unsauberkeiten, die Abstimmungsschwierigkeiten zwischen Orchestern und Sängern ziehen sich dann bedauerlicherweise durch den ganzen Abend. Da und dort rumpelt es gar so gewaltig, dass ich sekündlich den Abbruch befürchte. Das ist schade, handelt es sich doch bei „Agnes von Hohenstaufen“ durchaus um ein beachtenswertes, klangschönes Werk, dem man bei einer Produktion, die nicht als Wiederentdeckung angelegt ist, dann aber durchaus ein paar Striche angedeihen lassen kann und sollte.
Weitgehend eigene Kräfte bietet man in Erfurt auf, um die gesangliche Seite des Abends zu stemmen. Máté Sólyom-Nagy, seit mehr als 15 Jahren im Erfurter Ensemble und seit letztem Jahr Kammersänger, eröffnet den Abend in der Rolle des Kaisers Heinrich VI., gefällt mit eindrucksvollem Bariton, zeigt aber da und dort ein wenig viel Vibrato. Siyabulela Ntlale als König von Frankreich brilliert mit eindrucksvoller Tiefe, enormer Klangschönheit und phantastischer Bühnenpräsenz. Margarethe Fredheim ist seit 2015 am Haus und darf als Irmengard die klangliche Fülle und das große Volumen ihres wunderbaren Soprans voll ausspielen, während Caleb Yoo als Burggraf aus dem Reigen der kleineren Rollen mit imposantem Bass hervorsticht – da hat Hauschef Guy Montavon gut daran getan, dieses Talent ab der kommenden Spielzeit im Ensemble zu verpflichten. Bei der Auswahl der Gäste hat man nicht in allen Fällen ein so glückliches Händchen. Für Heinrich von Braunschweig (also den Sohn Heinrichs des Löwen) braucht es eine Sängerpersönlichkeit mit Heldentenorqualitäten. Die bringt Bernhard Berchtold leider nicht mit. Er müht sich redlich, kämpft aber mit den Höhen und scheint schon am Ende des ersten Aktes konditionell angeschlagen. Zu wenig Strahlkraft besitzt sein an sich klangschöner Tenor, dem aber letztendlich weniger Held guttäte – da fehlt mir doch eine ganz gehörige Prise Lohengrinscher Glanz. Der Amerikaner Todd Wilander singt die Vokale zwar gerade so, wie sie ihm einfallen und nicht unbedingt wie sie in den Worten stehen (glücklicherweise ist ja übertitelt), aber er besitzt genau dieses Strahlen, diesen Glanz und überzeugt so mit virilem Tenor als Philipp. Claudia Sorokina ist mit der Gestaltung der Titelrolle betraut. Ihr kraftvoller Sopran zeigt die Agnes als streitbare Figur, sie singt höhensicher, schwungvoll und überzeugend, doch hätte ich mir da und dort ein wenig mehr Zartheit gewünscht.
Dass man Ausgrabungen im Originalgewand zeigt, befürworte ich grundsätzlich, muss man doch bei einem Werk, dass mehr als hundertfünfzig Jahre keiner gesehen und gehört hat, anders als bei einer „Traviata“, die man an jeder Ecke gibt, nicht zwingend einen „alternativen Ansatz“ suchen. Das Produktionsteam um Marc Adam will aber augenscheinlich nicht altbacken daherkommen und ersinnt deshalb eine Teil-Verlegung der Handlung – die aber letztendlich ohne tieferen Sinn bleibt. Im deutschen Kaiserreich beginnt die Oper – und zwar dem, das dem heutigen Zuschauer wohl am meisten präsent ist. Mit Pickelhaube läuft man auf im ersten Bild, Projektionen zeigen Kriegsbilder, mutmaßlich aus dem Ersten Weltkrieg. Dazwischen werden einzelne Szenen – oder zumindest Teile davon – in mittelalterlichem Gewand gespielt oder man trägt Mode im Empire-Stil, also der Entstehungszeit der Oper. Ausstatterin Monika Gora hat die tollen Kostüme entworfen und überdies einen Einheitsbühnenraum gebaut, der die Tiefe der Bühne vollends ausnutzt und ab und an durch Prospekte verkürzt wird und deshalb als Thronsaal, Kloster und Schlafgemach gleichermaßen taugt. Die durchaus effektvollen Einfälle wie ein Meer aus Kerzen, hereinschwebende Kerker, der intensive Einsatz der Hebebühne und sogar Tierdressur schaffen schöne Bilder – kommen aber in ihrem Sinn über eine bloße Bebilderung nicht hinaus. Das reicht jedoch als würdiger Rahmen für so eine Ausgrabung.
Wirkungsvoll ist der Auftritt der Musikerinnen und Musiker der Stadtharmonie Erfurt, die bei Ihrem Einsatz vom Rang glänzen. Glänzend ist auch der Chor disponiert, extrem umfangreich ist sein Part. Andreas Ketelhut hat die 80 Sängerinnen und Sänger exzellent auf die anspruchsvolle Aufgabe vorbereitet und ihm gebührt ebenso viel Dank und Anerkennung wie den Musikerinnen und Musikern des Philharmonischen Orchesters Erfurt, die gestern von Mitgliedern der Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach unterstützt werden. Die musikalische Leiterin Zoi Tsokanou lässt, wie eingangs bereits erwähnt, eine gewisse Präzision vermissen und schaukelt sich eher durch den Abend, als musikalisch zu führen.
Es ist aller Ehren wert, wenn ein vergleichsweise kleines Haus sich an so eine Ausgrabung macht, sie mit vereinten Kräften stemmt und so dem heutigen Publikum hörenswerte und bedeutsame Werke wieder zugänglich macht. Und ohne schwächelnden Tenor und wackeliges Dirigat hätte ich das sogar noch mehr loben können. Beeindruckt hat mich nicht zuletzt auch der große Jubel des Publikums. Man feiert diese Ausgrabung, feiert dieses Ensemble, die Musikerinnen und Musiker, das Haus und vielleicht auch ein bisschen sich selbst, dass man dabei war bei diesem ersten Erklingen nach 180 Jahren. Und das ist dann ja auch wieder durchaus legitim.
Ihr Jochen Rüth 2.06.2018
Die Fotos stammen von Lutz Edelhoff.