04.12.2020 – Oper Köln
Anlässlich des 100. Jahrestags der Uraufführung von Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“ am 4. Dezember 1920 im Kölner Opernhaus unter der Leitung von Otto Klemperer, die bis weit in die 1950er Jahre weltweit große Verbreitung fand und seit Ende der 1960er Jahre wiederentdeckt wird, kam an der Oper Köln in der Interimsspielstätte im Staatenhaus, Saal 1, aufgrund der Beschränkungen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie als Live-Stream von 19.30 Uhr bis 22.15 Uhr, unterstützt vom Kuratorium Köln und den Freunden der Kölner Oper e.V., über die Website des Opernhauses zur Premiere. Das Libretto basiert auf George Rodenbachs Roman „Bruges-la-morte“ aus dem Jahr 1892, das von Korngolds Vater Julius (1860-1945) unter dem Pseudonym Paul Schott, frei zu einer Traumvision umgedichtet wurde.
Die Handlung spielt in der Stadt Brügge, als Stadt des Glaubens und Synonym des Untergangs des Habsburgerreichs, im 19. Jahrhundert. Witwer Paul, der um seine verstorbene Ehefrau Marie in starke Trauer verfiel, lebt mit seiner Haushälterin in großer Abgeschiedenheit in Brügge. Das Bühnenbild (Bühne: Stefan Heyne) zeigt einen braunen, runden Bartresen mit Barhockern, auf denen es sich Gäste mit Gläsern und Naschwerk gemütlich gemacht haben zur Verdeutlichung der Einsamkeit der Menschen in der Stadt, sowie einen sich öffnenden Guckkasten in zylindrischer Form als Panorama-Kasten, mit einem Saal im Inneren, worin die Sonnengöttin mit Mundschutz erscheint, die halbe Brust entblößt.
Im ersten Bild setzt sich die israelische Mezzosopranistin Dalia Schaechter, seit 2008 Kammersängerin der Kölner Oper, als Brigitta im schwarzen Kleid (Kostüme: Silke Willrett) mit weißem Kragen die Maske von Marie auf, wird zu ihrer Stellvertreterin, der Bewacherin der Treue ihres Ehemanns, schließlich zu ihrem Alter Ego. Ein Bild von Marie wird an die Wand projiziert. Der international renommierte Heldentenor Burkhard Fritz, der sowohl das italienische als das französische Fach singt und auch in Wagnerpartien brilliert, erscheint als Paul in weißem Hemd, leger gekleidet, ohne Schuhe, rundlich, vom Aussehen scheinbar unpassend für die Rolle des trauernden Witwers, durch die sehr entstellende Kleidung.
Marie schritt als regloser Schatten der Toten in blauem Kleid über die Bühne. Fritz als Paul flehte Gott mit voluminöser dramatischer Tenorstimme und verzweifeltem Ausdruck an, ihm Marie zurückzugeben. Sein Freund Frank, gespielt vom jungen österreichischen Bariton Wolfgang Stefan Schwaiger, der erst 2019 sein Masterstudium in Wien beendete, mit tiefer ausdrucksstarker Stimme, dandyhaft im lila Hemd und schwarzem Anzug, sitzt auf einem Barhocker und versteht seinen Freund nicht.
Ausrine Stundyte als Marietta, Burkhard Fritz als Paul und Wolfgang Stefan Schwaiger als Frank
Paul malt sich mit Lippenstift ein Herz auf die Brust und liebkost verstört Maries schwarze Perücke. Melodische Orchesterzwischenspiele des Gürzenich-Orchesters Köln unter der Leitung von Gabriel Feltz, das im Verlauf auch ungewöhnliche Orchesterinstrumente wie Celesta, Klavier, Harmonium, Schlagzeug, sieben tiefe Glocken miteinbezieht, deuten die Ankunft einer verschleierten mondänen Dame, der Tänzerin Marietta in kurzer Businesshose und leichtem Mantel, schwarzem Shirt und eleganten Absatzschuhen, an, die Mitglied einer Tourneegruppe des städtischen Theaters ist und dort Meyerbeers „Robert der Teufel“ probt. Haushälterin Brigitta, deren moralisch-religiöser Vorbehalt und Eifersucht, sie zur Nonne werden lässt, führt sie zu Paul. Paul beschenkt die hochdramatische litauische Sopranistin Ausrine Stundyte als Marietta mit Rosen.
Während des folgenden Duettes kleidet sich Marietta in Maries blaues Kleid und betrachtet sich versonnen im Spiegel, Paul gibt ihr eine kleine blaue Laute, damit wird sie vollständig zum Ebenbild Maries, zu ihrem Alter Ego, und singt ein Lied, was Marie schon gerne sang: „Glück, das mir verblieb“. Paul ist berührt, verklärt Marietta zu Marie und singt die zweite Strophe mit, das Lied wird zum operettenhaften, melodischen Duett. Als die tote Marie, gespielt von einer Statistin der Statisterie der Oper Köln, vor Marietta erscheint, erschrickt diese und verabschiedet sich ins Theater. Paul und Stundyte als Marie singen als Traumbild ein inniges Liebesduett, begleitet von rhythmischen Schlägen des Orchesters, das im Verlauf der Oper die Solisten teilweise übertönt. Marie ruft aus dem Jenseits. Als Marie Paul um seine weitere Treue bittet, verfällt er in eine emotionale Liebesbeteuerung, während verschiedene Statisten als Marie zu brennenden Lichtern über die Bühne schreiten.
Das zweite Bild begann mit einem furiosen Orchesterzwischenspiel in Forte, das den Widerstreit von Pauls Gefühlen durch Bläser, Pauken und Glockenspiel mit tiefen Glockenschlägen verbildlicht. Ein Schneesturm durchzieht die Bühne, durch den sich Paul im Wintermantel kämpft, um in rastloser Liebe zu Marietta zu gelangen. Glockenschläge ertönen. Brigitta läuft an Paul vorbei, sie ist inzwischen Nonne geworden, um Marie treuzubleiben, auf dem Weg zur Kirche, Paul bereut ihren Weggang. Sein Freund Frank, der das Alter Ego von Paul und Pierrot versinnbildlicht, liebt Marietta ebenfalls und löst sich von Paul, der ihm ihren Wohnungsschlüssel entreißt. In einem Zwischenspiel, das die ruhige Stimmung des beginnenden Morgens durch Vogelgezwitscher verdeutlicht, gelangt Paul in Mariettas Wohnung, wo die Theaterdarsteller, als Theater im Theater, nach dem Motto „Die Kunst ist frei“ die geprobten Szenen, wie die „Nonnenerweckung“, aus „Robert der Teufel“ parodieren, was Paul als Blasphemie empfindet. Wolfgang Stefan Schwaiger als Fritz, der Pierrot mit weißem Gesicht und in humorvollem Spiel, singt das gefühlvoll beschwingte Operettenlied im Commedia dell`Arte Scherzo „Mein Sehnen, mein Wähnen“, ein Mann auf Stelzen führt Paul am Strick herein, später wird Paul in einen Glaskäfig gesetzt. Es agieren in humoriger Interaktion und sängerisch ausgewogen, die polnische Sopranistin Anna Maleszka-Kutny als Tänzerin Julietta, seit 2020/21 Mitglied des Internationalen Opernstudios der Oper Köln, Mezzosopranistin Regina Richter als Tänzerin Lucienne, seit 2002/03 Ensemblemitglied, der australische Tenor John Heuzenroeder als Regisseur Victorin mit der Ballade „Ja, bei Fest und Tanz“ und Tenor Martin Koch als Graf Albert, seit 2009/10 Ensemblemitglied. Eine kleine Abordnung des Chors der Oper Köln als Tänzerinnen und Tänzer spielt homogen mit pandemiebedingten Abständen. Frank und Marietta beten sich durch den Glaskäfig schauend, in dem Paul sitzt, an. Die temperamentvolle Marietta kokettiert mit den Theaterleuten und spielt eine Liebesszene mit Frank hinter einem blauen Vorhang. Im folgenden Orchesterzwischenspiel, zu dem eine Liebesszene in schwarz-weiß eingeblendet wird, steigert sich die dramatische Musik, die auf Filmmusik, Krimi und Stummfilm zu verweisen scheint. Zu diesen gehetzten Klängen wird Marietta im Video (Video: Sandra Van Slooten) ermordet. Marietta erscheint wieder in kurzer Hose und schickt die Theaterleute nach Hause, bleibt mit Paul allein. Paul gesteht, dass er immer nur Marie in ihr geliebt hat, während sich Marietta abschminkt. In einer hochdramatischen Szene versucht sich Paul aus Eifersucht mit einer Flasche zu töten, was misslingt. Paul klagt sich an, dass er Marie verraten hat, erliegt aber der Verführungskunst Mariettas, die den Kampf mit der toten Rivalin aufgenommen hat, wenn beide im Unterhemd, jeder am anderen Bühnenende eine getrennte Liebesszene spielen. Brigitta schließt den Vorhang. Nach einer kurzen Pause, in der einige Solisten, die Regisseurin und die Intendantin Dr. Birgit Meyer über ihren Zugang zum Werk berichten, folgt das dritte Bild.
Zu Beginn des dritten Bildes, während der dramatischen, nach vorne peitschenden Orchestereinleitung öffnet Brigitta den Vorhang. Sichtbar wird Marietta, die nach einer gemeinsamen Nacht mit Paul, im Morgenmantel und Negligé mit einem Bild Maries spricht und deren blaue Laute zur Hand nimmt. Aus weiter Ferne erklingt hell leuchtend der Kinderchor „O süßer Heiland“ durch die Mädchen und Knaben des Kölner Domchores, als Zeichen der gegensätzlichen Reinheit zu Marietta, zart begleitet durch viele hohe Streicher für die heilige Feiertagsprozession. Brigitta läuft vorbei, inmitten der unsichtbaren Prozession. Ein lateinischer Choral erklingt, vorgetragen durch einige schwarzgekleidete Chorsänger (Chor: Rustam Samedov) mit Mundschutz und Kerzen. Als Marietta über Pauls Vision, der mit verzücktem Gesichtsausdruck vor sich hin fantasiert, erschrickt, wird ein Bild Maries in Videoprojektion eingespielt. Marietta ist über Pauls Religiosität erschrocken. Er beschmiert schmerzversunken seine Hände und sein Gesicht mit Blut, während Marietta in mimisch ausdrucksstarker Verzweiflung eifersüchtig aufbegehrt, ihn erotisch provoziert, da sie seine Liebe nicht zu gewinnen vermag. Sie wird wütend, rennt hin und her und wird beinahe wahnsinnig, will für ihre Liebe kämpfen und wedelt mit den Haaren der Toten in der Luft. Das erzürnt Paul aufs Äußerste, er tötet Marietta, die einen letzten Schmerzensschrei ausstößt und er erkennt: „jetzt gleicht sie ihr ganz“. Statisten sitzen trauernd auf Barhockern. Haushälterin Brigitta kehrt zurück, singt ein Duett mit Paul, während in der Bühnenmitte die tote Marietta liegt. Nach Ende dieser Traumszenen, kommt Paul zu sich, und erkennt, dass er alles im zweiten und dritten Akt nur geträumt hatte. Tänzerin Marietta kommt vorbei, um Schirm und Rosen abzuholen, die sie im ersten Akt vergessen hatte. Paul schildert Frank seine Vision, der ihm rät, die Stadt zu verlassen. Paul will sein Leben neu beginnen. Die Oper endet mit dem langsamen Lied “Glück, das mir verblieb“, im Orchesternachspiel des Liedes, bleibt Brigitta einsam zurück.
Hervorstechend die beiden Interpreten der anspruchsvollen Hauptrollen in hoher Tessitura Marie/Marietta und Paul, sowohl in darstellerischer Kraft wie in sängerischer Interpretation. Ausrine Stundyte überzeugte mit großem emotionalem Ausdruck in dieser ambivalenten Partie, dem Spagat der beiden Extreme der reinen Marie und koketten Tänzerin Marietta, mit dunkler, warmer dramatischer Sopranstimme, grandios. Burkhard Fritz als Paul mit strahlender dramatischer Tenorstimme mit hellem Timbre, meistert die heikle Partie, die lyrische wie dramatische Elemente beinhaltet, bravourös. Die Inszenierung von Tatjana Gürbaca ließ einige Handlungsaspekte offen, sie zeigte nicht den Unterschied von Traumvision und Realität, alles ging übergangslos ineinander über, brachte andererseits aber interessante psychologische Deutungen für die Figur der Marie, ihr ständiges Auftauchen in Form von Statistinnen, zeigte die inneren Vorgänge von Paul eindrucksvoll. Korngolds Oper mit ihrem Stilpluralismus von Richard Wagner, Richard Strauss, dem Verismo Puccinis und der Operette, die Verbindung verschiedenster musikalischer Kompositionstechniken, verknüpft durch eigenen Ausdruck, ineinander verwoben, zeigt, zu einem grandiosen Gesamtkunstwerk, einem psychologischen Kammerspiel, einer Metapher des inneren Zustands von Paul, den eigenen Stil des damals gerade Anfang Zwanzigjährigen Korngold.
Fotos von Paul Leclaire und Hans-Jörg Michel
Claudia Behn 11.12.2020