Besuchte Aufführung am 16.04.22 (Premiere am 09.04.22)
Nicht mein Schatz!
Ausgrabungen und selten gespielte Werke üben auf mich einen der größten Reize der Theater aus; "Die Kinokönigin" eine Operette von Jean Gilbert kannte ich bisher nur vom Hörensagen, und ich wüßte von keiner Aufführung in den letzten Jahrzehnten. Also hin an die MuKo Leipzig, um die Rarität zu begutachten! Jean Gilbert dürfte den meisten Lesern mittlerweile Unbekannter sein, denn hinter dem Künstlerpseudonym steckt Max Winterfeld, der in der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts als Unterhaltungskomponist, was nicht abwertend gemeint ist, sogar international vor allem in anglosächsischem Raum reussierte. Gilbert schrieb für alle Metiers: Schlager, Operetten, Revuen und Filmmusiken. Bis in die Siebziger Jahre war seine bekannteste Operette , "Die keusche Susanne", in die sein bekanntester Schlager nachträglich eingearbeitet wurde: das unverwüstliche "Puppchen, du bist mein Augenstern". Jetzt aber zur "Kinokönigin", die 1912 als "Die elfte Muse" in Hamburg, dann 1913 unter ihrem jetzigen Titel am Berliner Metropol-Theater herauskam und ihren Weg erfolgreich durch Wien, New York und London fortführte. Jean Gilbert gehörte zu den jüdischen Künstlern, die durch die Nazis verboten und in die Emigration getrieben wurde, er starb 1942 mit 63 Jahren in Buenos Aires. Sein Sohn kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg zurück und ist vor allem als Textdichter und Übersetzer bekannt; das "es grünt so grün" aus "My Fair Lady" stammt von ihm. Aber er setzte sich auch für das Werk seines Vaters ein und sorgte für, die jetzt in Leipzig gespielte Version, die 1961 revidierte "Kinokönigin", die er aus dem amerikanischen Filmmillieu nach Berlin versetzte, was bestens zur Musik seines Vaters passt, denn es handelt sich vom Tonfall unverkennbar um eine Berliner Operette.
Ja, die Berliner Operette…, viel wird davon nicht mehr gespielt, allenfalls Linckes fantastische Ohrwurmrevue "Frau Luna" oder seltener Kollos historischer Bilderbogen "Wie einst im Mai". Was wohl das Problem des Genres Berliner Operette (, wozu ich Künneke nicht rechne,) darstellt und was auch die "Kinokönigin" betrifft. Die Handlungen sind oft, sagen wir mal, etwas boulevardesk, spielen mit politischen oder kulturpolitischen Tagesaktualitäten und haben etwas überdrehten Stummfilmklamotten-Touch. Deshalb gebe ich keine Inhaltsangabe, sondern eine Personenangabe, aus der man eigentlich auf den Rest schließen kann: die emanzipierte Filmdiva Delia Gill, der mit dem Film (und der Diva) liebäugelnde Hofschauspieler Viktor Mathusius, der preußische Kulturminister Rüdiger von Perlitz und seine aufgeschlossene Frau Auguste, deren Tochter Annie, Edelhardt von Edelhorst verlobt mit Annie und als Max Marder, Autor von revolutionären Schriften, der Berliner Schupo Emil Pachulke und der Filmregisseur Eichwald. Damit sollte man sich eine Handlung zusammensetzen können. Leider wirkt dadurch alles, was sich um Liebe dreht, aufgesetzt und oberflächlich. Der Musik merkt man (leider) durchaus den "dritten Aufguss" von 1961 an, der erste Teil mäandert musikalisch durch Berliner Gegebenheiten, nach der Pause kommen dann ein paar zündendere Nummern; am Ende bleiben zwei sehr hübsche Walzer und der Ohrwurm "In der Nacht, in der Nacht, wenn die Liebe erwacht" hängen. Insgesamt erklärt das auch den Erfolg in New York und London, denn es erinnert sehr an die englischsprachige Form des Vaudeville. Kein Meisterwerk, sondern einfach ein Werk der netten Art, da hatten Leipzig diese Saison mit Lehàrs "Die Juxheirat" und Görlitz mit Falls "Der liebe Augustin" Operettenausgrabungen sehr viel besseren Kalibers.
Regisseur Andreas Gergen kündigt im Programmheft an, das Motto der Aufführung sei "Brechtsches Theater" und man arbeite mittels eines abstrakten Bühnenbildes (Stephan Prattes) und den filmischen Mitteln des "Green Room", aber keine Angst, im Grunde findet Operette der üblichen Art mit etwas modernen Zugaben statt, das Publikum darf sich amüsieren. Das Operette keine Realität abbilden will und kann, zeigt sich doch eigentlich in jeder Aufführung. Der Brecht taucht dann auch in Person des Filmregisseurs Eichwald deutlich erkennbar auf, Andreas Rainer spielt ihn sehr gekonnt, sein irgendwie österreichischer Dialekt hat allerdings mit Brechts Augsburger Bayrisch nicht viel gemein, halt irgendwie süddeutsch, das eigentlich reizende Regisseur-Couplet wäre mit nur zwei Strophen ausreichend bedient. Die filmischen Mittel wirken nicht zwingend, aber gefallen mir besser als viele Videosequenzen in heutzutage fast jeder Operninszenierung.Mirko Mahrs Choreographie rundet die Szene zusätzlich ab, nur in der Tanzversion von "In der Nacht" dürfen der Choreograf und das Ballett der MuKo richtig zeigen, was sie "draufhaben". Aleksandra Kica verortet mit ihren Kostümen die Handlung sehr schön zwischen endenden Wihelminismus und aufkommende Zwanziger Jahre.
Lilli Wünscher läßt mich in ihrem ersten Auftritt als Filmdiva irgendwie spontan an den wunderbaren DDR-Film "Solo Sunny" denken, diesmal darf sie klamaukiger sein und bringt wie immer ihre Präsenz, ihr Aussehen und ihre Professionalität als Leipziger Operettenstar ein, stimmlich und szenisch immer "au point". Jeffrey Krueger , der als Tenor auch oft den Buffo gibt, darf hier einmal mit angenehmem Tenorgesang den "primo uomo" der Operette geben, doch bewundernswert, wie er sein enormes komödiantisches Talent als gebürtiger Amerikaner in deutscher Sprache mit ungarischem Dialekt ! Nur der Haupthit "In der Nacht…" gerät ihm ein wenig brav, etwas mehr Keckheit, so wie Gustav Gründgens in "Tanz auf dem Vulkan", wäre angeraten. Mirko Milev und Anne-Kathrin Fischer als preußisches Ehepaar von Perlitz haben Klasse, er mit bestem Slapstick in Biedermannsmaske, sie als menschlich überlegene Gattin. Mirjam Neururer besticht mit lyrischem Sopran und Soubrettencharme. Vikant Subramanian gefällt mit baritonalem Tenor als zwielichtiger Verlobter. Mathias Schlung ist hervorragend als Pachulke für "det Balinerische" zuständig. Uwe Kronberg und Alexander Range komplettieren das Ensemble. Chor, Extrachor und Ballett der MuKo wie immer auf gekonntem Niveau. Stefan Klingele sorgt am Pult des Orchesters der MuKo für den nötigen Schmiss und Durchhörbarkeit.
Nicht jede Ausgrabung läßt einen Schatz finden, doch die Aufführung gibt das Beste, die Rarität funkeln zu lassen. Und es gibt auch hier die wesentliche Erkenntnis: hätten wir es nicht erleben können, könnten wir uns keine Meinung davon machen. Insofern lohnte die Reise nach Leipzig.