Des Meisters beste, aber leider einzige „Operette“ in spritziger Umsetzung
In Kooperation mit den Bayreuther Festspielen (BF Medien GmbH) zeigte die Oper Leipzig die Große Komische Oper in zwei Akten, deren Text Richard Wagner nach der Komödie „Maß für Maß“ (Measure for Measure) von William Shakespeare, der den Titel der Bergpredigt (Matth. 7:2: „Denn mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden.“) entlehnt hatte. Die Handlung spielt bei Shakespeare in Wien im 16. Jhd. Im Rahmen des Festivals Wagner 22 werden alle 13 Bühnenwerke des Meisters in der Reihenfolge ihres Entstehens, mit Ausnahme des Rings, gezeigt. Während einer Reise bekam Wagner 1834 nach der Lektüre des Briefromans „Ardinghello“ (1787) des deutschen Schriftstellers, Übersetzers, Gelehrten und Bibliothekars, Johann Jakob Wilhelm Heinse (1746-1803), die Idee zu seiner zweiten vollendeten Oper. Heinse verarbeitete in diesem Roman seine Reise nach Italien in den Jahren 1780-83 und strich die Gleichstellung der Frau und die freie Sinneslust heraus.
Zu jener Zeit verkehrte Wagner mit Heinrich Laube (1806-84), dem Autor des Jungen Europas und Jungen Deutschlands und späteren künstlerischen Direktor des Burgtheaters von 1849-67. Zu jener Zeit war Wagner aber auch in die ältere gutaussehende Schauspielerin Minna Planer (1809-66), seiner späteren Ehefrau, verliebt. „Freie Liebe“ jenseits aller Konventionen und Verbote, wie modern und gleichzeitig frivol hätte ein solcher Stoff damals wirken können? Aber der Uraufführung am Magdeburger Theater am 29. März 1836 war kein Erfolg beschieden. Sie endete in einer Katastrophe. Ort der Handlung von Wagners komischer Oper ist Palermo im 16. Jhd. Statthalter Friedrich verbietet bei Strafe alle Umtriebe im Karneval. Das erste Opfer dieses Gesetzes wird Claudio, denn seine Geliebte Julia ist von ihm schwanger. Bereit sie zu ehelichen, wird er dennoch zum Tode verurteilt. Die junge Novizin Isabella, seine Schwester, versucht ihren Bruder zu retten, indem sie sich mit dem Statthalter Friedrich auf ein amouröses Techtelmechtel einlässt.
Isabella erkennt jedoch noch rechtzeitig, dass Friedrich die Begnadigung Claudios nicht unterzeichnet hat, und enthüllt dem Volk diesen Betrug. Das Volk fordert nun die Aufhebung des Karnevalsverbotes, anstatt Friedrich nach seinen eigenen Maßstäben zu richten. Der puritanische Friedrich wird abgesetzt und der herannahende König voll Überschwang gefeiert. Damit hat die Liebe durch eine Revolte schlussendlich doch gesiegt. Weshalb sich Wagner von seiner einzigen und besten „Operette“ distanzierte, ist heute nicht mehr nachzuvollziehen. Verführung und Erlösung, spätere Hauptmotive in Wagners Werken, sind bereits erkennbar. Freilich, die rhythmische Ouvertüre erinnert an Adolphe Adam und Daniel François Esprit Auber, im Übrigen auch an den Stil der italienischen Opera buffa eines Donizettis und Rossinis. Und bereits in dieser frühen Oper erkennt man deutlich eines der zentralen Themen des Komponisten, nämlich die Unvereinbarkeit von Erotik als dionysischem- und der „hohen“ Liebe als apollinischem Prinzip, welches Thema später im Tannhäuser auftauchen sollte. Die äußerst witzige Inszenierung dieser komischen Oper hatte bereits 2013, anlässlich des 200. Geburtstag des Meisters, Premiere. Aron Stiehl, seit 2020 Intendant des Stadttheaters Klagenfurt, hatte Regie geführt. Neben zahlreichen Gags ist vor allem der Verweis auf die zwölf Weihnachtstage, die vom 25. Dezember bis zum 6. Januar (Epiphanias Nacht) dauerten.
Zu Shakespeares Zeit wurden die 12 Weihnachtstage als Beginn der Karnevalszeit mit Maskenspielen gefeiert, in denen die Menschen ihre geschlechtlichen und gesellschaftlichen Identitäten durch Verkleidung vorübergehend wechselten. Das Bühnenbild von Jürgen Kirner ermöglichte durch hohe Wände und Kästen schnelle Szenenwechsel, die der raschen Dramaturgie der Oper zugutekamen. Die sinnlich-triebhafte Ebene symbolisierten exotische Pflanzen in einem angedeuteten Dschungel, während ein leuchtendes Kreuz die Szene als Kloster kennzeichnet. Statthalter Friedrich sitzt vor einem Schrank mit vielen nummerierten Schubfächern, die ihn als Ordnungsfetischist kennzeichnen. Mit ironischem Augenzwinkern hat Sven Bindseil die Kostüme gestaltet. Christian Schatz sorgte für eine abwechslungsreiche Lichtregie. Die Choristen als „Volk“, das am Ende den Siegeskranz erringt, wurde von Thomas Eitler-de Lint präzise auf ihre mannigfaltigen szenischen wie sängerischen Aufgaben exzellent vorbereitet. Matthias Foremny, der bereits die Premiere 2013 dirigiert hatte, leitete auch dieses Mal das Gewandhausorchester mit Umsicht und größtenteils zufriedenstellend. Der finnische Bassbariton Tuomas Pursio gab den in seinen psychischen Zwängen verhafteten Statthalter Friedrich von Sizilien in Abwesenheit des Königs.
Stefan Sevenich hatte für Brighella, den Chef der Polizeidiener, seinen veritablen Bassbariton erklingen lassen. Der finnische Tenor Dan Karlström und der in Dortmund geborene Tenor Mirko Roschkowski gaben das Freundespaar Claudio, der eingekerkert wird, und Luzio in jugendlicher Frische. Der irische Bariton Padraic Rowan gefiel als Wirt Danieli, unterstützt durch Tenor Martin Petzold , Mitglied des Leipziger Thomanerchors, als dessen Diener Pontio Pilato. Der auf Färöer gebotene Tenor Herfinnur Árnafjall und der deutsche Bariton Franz Xaver Schlecht ergänzten rollengerecht in den Dienerrollen von Antonio und Angelo . Manuela Uhl glänzte als Claudias Schwester Isabella mit glockenhellem Sopran. Als ihr früheres Kammermädchen Dorella gefiel Magdalena Hinterdobler mit gut geführtem Sopran und keckem Wesen. Friedrichs verlassene Frau Mariana war in der Kehle von
Nina-Maria Fischer bestens aufgehoben. Wer hätte Richard Wagner eine solche südländische Leichtigkeit, gewürzt mit viel Humor und Leidenschaft, jenseits von Liebestod und Weltenbrand schon zugetraut? Das Publikum war begeistert und goutierte diese Rarität im Œuvre von Wagner mit langanhaltendem Applaus und zahlreichen Bravo-Rufen.
Harald Lacina, 26.6.22
Fotos: Kirsten Nijhof