Leipzig: „Der Ring des Nibelungen“

Besuchte Vorstellung: 15. Januar 2020

„Wild und kraus kreist die Welt…“

TRAILER


„Die ganze Tragödie der menschlichen Geschichte“ erblickte George Bernhard Shaw in Wagners „Ring“. Der sympathische Vater der linken Wagner-Rezeption, dessen „Wagner-Brevier“ erstmals 1908 auf deutsch und bezeichnenderweise erst 1973 wieder erschien, bescheinigte allerdings „nur Menschen mit einem umfassenden Denkvermögen“ ein tieferes Verständnis von Wagners insgesamt 16-stündigem Weltendrama.

Regisseure, Dramaturgen und Dirigenten wissen, auf was sie sich da einlassen; sie müssen sich an den Ansprüchen des Riesenhorts aus den „Jahrhundertringen“ und all den mehr oder weniger funkelnden Facetten der fast unüberschaubaren Rezeption der Tetralogie messen lassen. Die Latte hängt gerade in Leipzig besonders hoch – war doch in des „Meisters“ Geburtsstadt das wuchtige Werk im Jahre 1876 zum ersten Mal außerhalb von Bayreuth komplett aufgeführt worden; zehn Jahre später leitete einer der größten Dirigenten aller Zeiten, Gustav Mahler, den „Ring“ als Vertreter des erkrankten Arthur Nikisch in Leipzig.

Bereits 2013 startete die Oper Leipzig mit der Inszenierung der Londonerin Rosamund Gilmore eine neue Interpretation des Zyklus, der 2016 dann in Gänze zu sehen war. Das noch junge Jahr 2020 erlebte nun eine in Details überarbeitete Neuauflage der Produktion mit teils neuer Besetzung.

Dieser „Ring“ bietet aufgrund seines komplexen Umsetzungskonzepts, zumal mit der Erweiterung durch von der Regisseurin choreographierte Tanzeinlagen, sehr unterschiedliche Wahrnehmungsebenen und dadurch auch Kritikflächen. Die vier Teile schienen so heterogen, daß sich mitunter der Eindruck einstellte, als hätten hier verschiedene Regisseure gewirkt.

Lobenswert ist die Übertitelung mit englischen Texten neben dem Original-Libretto, zumal die englischen metrisch korrekt, also singbar sind – eine sehr offene und gastfreundliche Geste. Schließlich war in den Pausengesprächen viel englisch, auch dänisch, schwedisch und spanisch zu hören. Praktischerweise bot die Leipziger Oper mehrere Bars mit Getränken und Häppchen an, weswegen entspannte Unterhaltungen innerhalb des internationalen Publikums möglich waren, anstatt die halbe Pause in der Warteschlange zu stehen.

„Das Rheingold“ ist eine Oper mit humorigem Anstrich und das darf auch entsprechend umgesetzt werden. Folgerichtig sprach der Dramaturg Christian Geltinger in seiner Einführung auch von einer „Comédie humaine“. Wagners Stabreime sind oft einfach nur komisch und mitnichten hohes deutsches Kulturgut, an dessen ernst-festem Eschenstamm nicht gekratzt werden darf. Lange vor Brecht arbeitete Wagner, der bis zu seinem Tod seinen frühsozialistischen Wurzeln zumindest in Werk und Denken treu blieb, mit Verfremdungseffekten, um seine Gesellschafts-, genauer Kapitalismuskritik unterhaltend zu transportieren. Dazu baute er einen echten Mythos, der erklärte, wie Gier und Lüge in die Welt kamen und daß sich Macht und Liebe ausschließen. Der französische Strukturalist Claude Lévi-Strauss bewunderte Wagner dafür und war begeistert vom (zer-)gliedernden und sinnbildenden Einsatz der Leitmotive, die wie eine hochkomplizierte Flechtbandschnitzerei funktionieren: das Ganze ornamental und inhaltlich zusammenhaltend und je nach Erscheinen der einzelnen Strangteile anders gefärbt und harmonisch eingefaßt durch die umgebenden Elemente.

Die Aspekte Kritik und Mythos sind für ein Verständnis und folglich auch eine Inszenierung des „Rings“ ebenso essentiell wie die Raben Hugin und Munin für Wotan: ohne die beiden geht es nicht.

Nachdem der wunderbare Es-Dur-Akkord des noch natürlich fließenden Rheins aus der traulichen Tiefe des Grabens quoll, gab es gerade im Blech des Gewandhaus-Orchesters immer wieder manches Geschepper und unsaubere Einsätze, was sich auch gegen Ende des Vorabends wiederholte. Ansonsten spielte der weltberühmte Klangkörper unter Leitung von Ulf Schirmer ausgesprochen kräftig, dabei manchmal einige der Sänger übertönend. Die Stärke der Bläser und des Schlagwerks, darunter vor allem des Beckens, formten insgesamt einen satten Wagner-Sound, der vor allem in den Forte- und Fortissimo-Stellen glänzte.

Nicht ganz klar war, was die Rheintöchter (Magdalena Hinterdobler, Sandra Maxheimer und Sandra Janke) eigentlich darstellen sollten, die wie Nischenfiguren in der fenster- und türenreichen Architektur des Bühnenbildes von Carl Friedrich Oberle standen und in der Kostümierung von Nicola Reichert eher an Bordsteinschwalben denn an niedliche Nixen erinnerten. Originell gelöst war hingegen die Verfolgungsjagd Alberichs. Kay Stiefermann, der innerhalb der Leipziger Produktion debütierte, glitt im Wasserbecken immer wieder aus. Das war echt verstandener Wagner-V-Effekt und Spaß-Theater, weil der Wandel des albernen Alben zum machtgierigen Raffer um so glaubhafter gelang.

Und hier tauchte schon die fast bei jedem Erscheinen nervende und überflüssige Tanz-Combo auf, die unterstreichend wirken sollte, aber das eigentliche Geschehen fast immer schwächte und vom tatsächlich Gemeinten optisch und inhaltlich eher ablenkte. Das hat schon bei Guy Cassiers´ „Ring“ am Berliner Schiller-Theater ab 2010 nicht funktioniert und läßt darauf schließen, daß Gilmore nicht auf das Zusammenwirken von Ton, Wort, Raum und Spiel vertraute. Geltinger verwies in seinen Einführungen mehrfach auf das „Sprachvermögen der Musik“, das die Regisseurin offenbar als nicht ausreichend empfand.

Wirklich gute Einfälle glänzten immer wieder in Details wie dem Diebstahl des Goldes aus einer Tresorvitrine, deren Glas Alberich ebenso mühelos zerschlug wie die Einbrecher das vor Kurzem im Dresdner Grünem Gewölbe taten. Das Walhall-Modell sah aus, als hätte Albert Speer eine Zikkurat in Babylon entworfen und entlarvte treffend die Großmannssucht des Göttervaters, den Iain Paterson ebenfalls zum ersten Mal in Leipzig sang. Als Wotan/Wanderer war er sehr wandlungsfähig und, wenn erforderlich, so menschlich wie es ein Ase sein kann. Nicht immer kam er gegen das dominante Orchester an.

Die ganze Szenerie mit der Götter-Mischpoke und den Riesen in einem großen Treppenhaus war wie ein Kinderbuch gestaltet, man kann und soll sie alle nicht wirklich ernstnehmen. Es ist halt alles wie ein Spiel, das aber dann immer ernster wird. Fricka (Kathrin Göring) ist ebenso mitschuldig wie die von ihr gescholtenen Männer, sie erinnerte in ihrem Interesse am geraubten Geschmeide an eine Nazi-Gattin, die nach Raubgold giert. Donner (Anooshah Golesorkhi) und Froh (Alvaro Zambrano) sahen aus wie gelangweilte Sportler-Dandies aus einer englischen Gesellschaftskomödie, Zambrano mit seinem Golfschläger drang stimmlich aber nicht recht durch. Schön war die Szene, in der die beiden zu faul sind, um sich wirklich gegen die Verschleppung Freias (Gal James) zu empören. Ihrem bunten Kostüm entsprach leider nicht ihr eher farbloser Vortrag. Donner hatte offenbar „Rücken“ und konnte nicht beim Aufstapeln des Hortes helfen. Sein Hammer war hier ein Poloschläger, was zu Golesorkhis nicht wirklich starkem „Heda-Hedo!“ paßte. Man wünscht sich aber doch zu dieser so großartigen Musik einen Donner, der mit seinem Mjölnir tatsächlich Riesenschädel einschlagen kann.

Fafner (James Moellenhoff) und Fasolt (Stephan Klemm) mit ihren großen Hüten entsprachen dem Kinderbuch-Graphik-Entwurf, beide durchaus stimmriesig, mit ihren Fluchtstangen vermaßen sie die Großbaustelle Walhall und schließlich auch den gehäuften Hort. Mit einer der Stangen beging Fafner schließlich den mythischen Brudermord und latschte dann gleichgültig immer wieder über den Leichnam hinweg.

Die Nibelungen-Hämmer hatte Wagner ja als nervende Klänge einer menschenverachtenden Großindustrie gedacht; sie klangen hier jedoch zu glockenhaft und daher harmlos.

Einer der echten Stars des Abends war Dan Karlström als Mime, gesanglich und schauspielerisch. Sein Jammern, als Alberich ihn am Ohr packte, drang durch Mark und Bein.

Charmant gelöst war die Drachenszene, wo die Tänzer ein Saurierskelett wie aus dem Film „Nachts im Museum“ darstellten. Auch als Umbauassistenten wirkten sie leicht und unaufdringlich, ebenso wie als Wickler von Erdas Schicksals-Verstrickungsfaden. Karin Lovelius sang in ihrem Leipziger Debut die Ur-Mutter großartig und respektheischend.

Die Personenregie war entweder punktuell eingesetzt oder die Sänger machten spielerisch das Beste aus ihrer Rolle. Patersons Wotan war so paralysiert vom Ring, daß er Alberichs Fluch zu überhören schien. Hier war auch das Orchester wieder etwas zu laut. Aber seine Wandlung nach der Abgabe des Fluchreifs zum Gatten, der seine Frau wieder liebend wahrnimmt, war völlig glaubhaft.

Daß die Rheintöchter beim Vorwurf der Falschheit und Feigheit ins Publikum schauen, war stimmig und wirkungsvoll. Wir hängen alle mit drin im üblen Spiel um Macht und Geld.

Über die Applausordnung waren sich die Darsteller offenbar nicht ganz klar, was aber eher liebenswürdig-menschlich wirkte.

Die Walküre

Besuchte Vorstellung: 16. Januar 2020

Aus dem Schneetreiben in unwirtlicher Schützengrabenlandschaft fand Siegmund (Robert Dean Smith) an Hundings Herd, passend in einen Mantel aus Wolfsfell gehüllt. Der im Haus hängende Widderschädel ehrte Fricka als Schützerin der Ehe. Das ergab Sinn, aber das begleitende Getanze mit halbem Widdergehörn, Wolfsschädeln und Rabenflügeln war bereits im ersten Aufzug wieder zuviel und wirkte wie Kindertheater, damit auch die ganz Kleinen begreifen, wer hier alles mitspielen darf.

Dafür hatte sich das Orchester warmgespielt und war dynamisch und kraftvoll auf der Höhe. Das galt auch für Smith, dessen „Wälse!“-Ruf zwar nicht ganz die 17 Sekunden von Lauritz Melchior erreichte, aber den ganzen Saal durchdrang. Randall Jakobsh war ein wunderbar ekelhafter Hunding, dessen Baß so gekonnt häßlich klang wie es dem Charakter entspricht. Melanie Dieners Sieglinde war verzweifelt angelegt, ihr kurzes Glück mit dem geliebten Zwillingsbruder war ein helles Intermezzo in einem glücklosen Leben.

Glücklos sind auch die Götter nach den faulen Verträgen und das bewährte Paar Fricka (Kathrin Göring) und Wotan (Iain Paterson) gaben einen überzeugenden Ehekrach. Wer Wagners psychologisch ausgefeilten Text in eine zeitgenössische Sprechweise übersetzt, wird über die Realitätsnähe des dialogisch Gesagten staunen und darf froh sein, wenn er das nicht aus eigenen Beziehungen kennt. Frickas Eifersucht ist ebenso glaubwürdig (der getanzte Widderwagen wiederum Jahrmarkt aus Niflheim) wie Allison Oakes als Brünnhilde, die ebenso liebende wie trotzige Tochter. Leider ist die Gestalt des Grane wieder einer der unglücklichen Einfälle Gilmores. Ziv Frenkel hat sie einen Pferdeschwanz (ja, am Haupt!) verpaßt und die Karikatur eines Sattels auf den Rücken geklebt. Dazu mußte er in Plateausohlen mit Pferdehufanmutung staksen, wenn er nicht wie ein mißglücktes Kriegerdenkmal umherstand. Im Zusammenspiel mit Brünnhilde war daher nicht klar, ob er Pferd, Gefährte, Geliebter sein sollte.

Oberles Bühnenbild, in dessen Vordergrund immer wieder (sinn-)verhüllte Gestalten krochen, erinnerte mit seiner bröckelnden und schiefen Monumentalität an Ruinen aus Mussolinis römischen Stadtviertel EUR oder an die leeren Fassaden in den Gemälden von Giorgio de Chirico. Mit diesem Abgesang auf einstige Größe bot es einen trostlosen Hintergrund zum traurigen Geschehen mit der Unmöglichkeit der Liebe der Geschwister und dem Bruch zwischen Wotan und seiner Lieblingstochter.

Sieglindes unbequeme Lage in einer der Architekturnischen führten vielleicht zum kleinen Frosch, eher einer Kaulquappe, den Melanie Diener im Halse hatte. Insgesamt schien sie an diesem Abend nicht ganz auf der Höhe zu sein. Ihr Suizidversuch mit einer Glasscherbe vermittelte schmerzhaft ihre ausweglose Situation, in die – großartig erschreckend! – Hundings Horn gellte. Daß Siegmunds Schwert einen Augenblick zu früh zerbrach, sah man wahrscheinlich nur in den ersten zehn Reihen. Das „Geh!“, mit dem Wotan Hunding wegfegt, würgte Paterson geradezu aus; die Situation ist ja in der Tat zum Erbrechen.

Der Walkürenritt hätte etwas pfeffriger sein dürfen; insgesamt waren der zweite und dritte Aufzug nicht ganz so dynamikerfüllt. Die Szene geriet darstellerisch eher zu einem Ballett der Flintenmädchen. Eine gute Idee waren die vielen weißen Stiefel, die wie auf einem Soldatenfriedhof paarig aufgereiht standen. Die nach Walhall geführten Krieger waren der Kleidung nach hingegen offenbar alle Jockeys gewesen. Michael Rögers Lichtregie unterstützte hier, wie übrigens im ganzen „Ring“, unaufdringlich und sensibel Musik und Handlung.

Daß Wotans Wut, mit der er seinen Töchtern und vor allem der ungehorsamen Brünnhilde begegnete, so gar nicht rasend tobte, sollte womöglich seinen eigentlichen Unwillen gegen die Strafaktion widerspiegeln. Seine Bestürzung angesichts dessen, mehr als nur seine Tochter zu verlieren, war tief und wahrhaft empfunden, die traute Innigkeit nahm man beiden unbedingt ab. Auch wenn Loge komödiantisch daher wackelte – es gab echtes Feuer um die minnige Maid!

Siegfried

Besuchte Vorstellung: 18. Januar 2020

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Faschistische Architektur rahmte auch den ersten Aufzug von „Siegfried“ und leider gab es wieder Tänzer, die aus einer wuchernden Wiese ragten und mit engen Pullovern kämpften, aus denen sie einfach nicht herauskamen. So zumindest sah es aus und manche britischen oder dänischen neue Freunde konnten lernen, was der Begriff „Hupfdohlen“ bedeutet.

Wiederum gab Dan Karlström einen schmierigen, schmeichelnden und wirklich witzigen Mime mit Jammer-Tremolo. Ob mit Kinderwagen oder auf dem Fahrrad – Figur und Sänger waren eins in der Parodie eines wahren Giftzwergs, als der er sich dann später zeigen sollte.

Stefan Vinke als Jung Siegfried im Kinderanzug war herrlich frech und agil, das kindlich-spielerische Moment unterstrich ein lebendiger Jahrmarkt-Teddy, den er aus dem Wald mitgebracht hatte. Das frische Spiel des Orchesters schickte sich gut zum Inhalt und zum unterhaltsamen Duktus dieses Teils der Oper. Der mittlerweile vertraute Iain Paterson verkörperte einen würdigen, aber mit Recht müde wirkenden Wanderer, der mit seiner Souveränität den geplagten Mime in echte Verzweiflung und nervöse Huschigkeit brachte.

Selten hat man die von Wagner erfundene Gefahrenmusik so schön schauerlich gehört wie hier – wer das Fürchten noch nicht gelernt hatte, erfuhr nun, was Grusel ist!

Völlig unverständlich dagegen war die angedeutete Neuschmiedung von Nothung. Vinke, der als geübter Siegfried die Szene aus anderen Produktionen kannte und sie problemlos hätte aktiv gestalten können, stand wie ein Schlagersänger mit Mikrofon mit seinem Hammer vor dem Amboß und hieb hin und wieder mal schwach auf das Schwert. Fast vollständig drangen die Schmiedeklänge aus dem Orchestergraben. Die Wuchtszene zu „So schneidet Siegfrieds Schwert!“ verkam zur fragwürdigen Witznummer, weil Vinke meterweit entfernt vom Amboß stand. Alles geht von selbst oder was will uns der Autor damit sagen?

Bifröst, die bebende Rast, also der Regenbogen, der sich am Ende des Rheingolds über der Szene wölbte, war im zweiten Aufzug zerbrochen und lag über der Neidhöhle, Kabel hingen aus den leeren Fensterhöhlen und Efeu überwucherte den grauen Stein. Das war ebenso treffend wie die Hinwendung Alberichs (Tuomas Pursio) mit seiner bewußt unsympathisch getönten Stimme zum Publikum bei den Worten: „Euch seh´ ich noch alle vergehn!“. Fafners Fluchtstange wies leitmotivisch sinntragend auf Vermessung und Inbesitznahme der Welt. Leider wieder gar keinen Sinn hatte die Idee, gleich vier Vögel in Gestalt von weißgekleideten Flirt-Ballerinas in den Wald zu schicken. Dabei war die Flötenszene mit Siegfrieds unbeholfenem Getute wirklich komisch. Alina Adamski als jugendfrischer Waldvogel hatte Unglück mit ihrer Positionierung im S-schluckenden Orchestergraben.

Einer der besten Einfälle war, Fafner (Randall Jakobsh) als Großkapitalisten des 19. Jahrhunderts darzustellen, gleichsam in Umkehrung des V-Effekts mit dem Drachen, der liegt und besitzt. So träge wie die belebte Riesenpuppe auf dem Sofa saß, mußte er von vielen kleinen Helfern unterstützt werden, die hektisch auf Siegfried eindrangen, aber als Witzfiguren schnell besiegt waren, als der Held dem Ausbeuter das Schwert in den fetten Bauch und eben nicht ins Herz gestoßen hatte. Fast wie ein Sohn kuschelte sich Vinke dann an den Sterbenden, der das Stadium der Altersweisheit etwas zu spät erlangt hatte.

Die darstellerisch anspruchsvolle Lügenszene meisterte Karlström gekonnt, indem er Text und Gestik diametral entgegensetzte und den aufmüpfigen Jungen tätschelte, während er mit Meckerstimme in Aussicht stellte, ihm den eigenwilligen Kopf abzuhauen. Da mußte ihm Siegfried nur mit dem Schwertknauf gegen die Stirn schlagen, um dem Lügen ein Ende zu machen.

Das Bühnenbild dominierte dann eine Kriegsruine wie ein zerbombtes Kellergewölbe, vor dem Wotan und Erda (Karin Lovelius) einander innig-nahe lagen. Hier erfüllten die Tänzer, auch weil sie so diskret und verhüllt von der langen Schleppe auftraten, tatsächlich ihren Zweck als Träger des Stoffes, der das langgewirkte und wirkende Schicksal meinte, in das auch der Göttervater eingewickelt wurde.

Dieses Schicksal ereilte ihn in Gestalt seines Enkels, der ihm mit einem Schwung den Speer zerhieb. Ebenso zerbrochen wie die Vertragsgrundlage war schließlich der zentrale Faschisten-Bau; das Ende der Macht war nur noch eine Frage von 24 Stunden. In der Ruine hatte Wotan einen Koffer zurückgelassen, in dem Siegfried ein frisches Hemd und eine schwarze Hose fand, damit er nicht im Spielanzug vor die selige Maid treten mußte. Ohne sie zu berühren, löste er wie mit einem Zauberstab in Schwertform die engende Brünne, fiel dann aber ganz in die Rolle des endlich ängstlichen Kindes, das sich vor etwas Unbekanntem versteckt. Das war ein sensibles und vorsichtiges Miteinander-Agieren, zumal Daniela Köhler als Brünnhilde, nachdem sie sich noch schlaftrunken geräkelt hatte, so mädchenhaft frisch nach des Helden Dornröschenkuß sich erhob. Grane hielt sich glücklicherweise im Hintergrund, aber man hatte, als er sich langsam näherte, schon Angst vor mehr. Die Verzögerung des lösenden Liebes-Eins-Seins baute eine immense Spannung auf, bevor die beiden sich endlich selig im C-Dur-Liebeshymnus die Arme sinken konnten und…dann passierte das Unverzeihliche. Tänzer stoben auf die Bühne und hupften um das Liebespaar herum. Das war ein veritabler Coits interruptus, so, als hätte einen das schönste Mädchen der Schule endlich erhört und im entscheidenden Augenblick kommt die ganze Familie ins Zimmer und schmeißt sich mit aufs Bett. So kann man eine der wichtigsten und schönsten Szenen des „Rings“ bis auf den Grund zerstören. Zuschauer als verschiedenen Ländern: stinksauer.

Götterdämmerung

Besuchte Vorstellung: 19. Januar 2020

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Vom dramaturgischen Entwurf und der Gesamtleistung aller Mitwirkenden her war die „Götterdämmerung“ der stärkste Teil des Leipziger Zyklus. Der wahre Opernfreund fragte sich allerdings auch hier wieder, warum manche Leute sich in ein Opernhaus verirren, die keinen Respekt vor Kunst, Ausführenden und den anderen Zuschauern haben. Immer wieder liefen Menschen türenschlagend hinaus, ein älterer Herr quasselte ständig mit seiner Frau und hörte damit auch nicht nach mehreren Ermahnungen seiner Umsitzenden auf, ein anderer hatte sein Mobiltelephon, aus dem Popgeplärre quoll, angeschaltet in der Tasche, ein weiterer öffnete lautstark eine Sprudelflasche. Der Blutdruck des Rezensenten konnte glücklicherweise durch ein Umsetzen gesenkt werden; es gab noch ein paar freie Plätze.

In der Nornenszene mit Karin Lovelius, Kathrin Göring und Magdalena Hinterdobler agierten die Tänzer einigermaßen diskret. Die Götter liefen als Schatten ihrer selbst auf der Bühne umher, ein später zweimal abgewandelter, wirklich guter Einfall. Man fragt sich ja immer wieder wie auf der letzten Seite des „Stern“: was machen eigentlich die Götter? Sie können nur tatenlos ihr Ende erwarten. Wagner hatte das altnordische Wort „Ragnarök“ mit „Götterdämmerung“ wiedergegeben; eigentlich wäre „Götter-Schicksal“ oder „Götter-Dunkelheit“ korrekter, aber in der „Dämmerung“ steckt mehr das Ahnende, zu Erwartende. Nun ist in den altnordischen Vorbildern und Wagners Oper das Schicksal der Götter mit dem der Menschen verbunden und da steht zuerst der eiskalte Mordplan gegen den unter das Intrigenrad gekommene Siegfried.

Diesen sang Thomas Mohr zu Beginn etwas quäkig, er legte dann aber umgehend an stimmlicher Fülle zu und gab eine formidable Leistung ab. Ihm zur Seite ließ Christiane Libor keinen Zweifel daran, daß sie eine große Brünnhilde ist. Die Leipziger Bühne wird in dieser Rolle sicher nicht ihre letzte sein.

Ihres Gefährten Rheinfahrt war gleichsam eine leichte und spritzige Fahrt mit dem musikalischen Motorboot, Schirmer hatte Kerosin in den Tank geschüttet. In der anschließenden Szene gab es kleine Schnitzer im Blech und einmal im Holz, aber ansonsten strahlte der Klangkörper gewohnt stark.

Auch die Gestaltung der Gibichungen und ihrer Wohnstatt war großartig gelungen. Das gut ausgeleuchtete Bühnenbild glich einem kalten Bürobau mit großen Fenstern; man war auch an die Luxusbuden der Reichen in manchen TV-Krimis erinnert, wo die Transparenz nur im Fensterglas gegeben ist. In Wahrheit ist alles von Lügen und Intrigen durchzogen. Ein Konzertflügel stand nur als Repräsentationsobjekt herum, spielen konnte und wollte ohnehin keiner darauf. Sucht bleibt in solch liebesfeindlicher Atmosphäre oft nicht aus und so spielte Tuomas Pursio sehr überzeugend einen Gunther als Alkoholiker, der mit seinem Ärmel immer wieder zwanghaft die Tropfen auf dem Glastisch abwischte, als wollte er das innerlich Schmutzige aus sich und seiner verlogenen Familie wegpolieren. Bei der Blutsbrüderschaftsszene jammerte er memmenhaft, als Hagen ihm die Hand ritzte. Dem Spiel entsprach seine sangliche Leistung, was auch für Sebastian Pilgrim als Hagen galt, der alle Register vom drohenden Flüstern bis zum donnernden Poltern beherrschte.

Seine Halbschwester Gutrune (Gal James) langweilte sich entweder am Tisch mit ihrem zunehmend angesäuselten Bruder oder in einer Glasvitrine, in der sie zuweilen wie ein Ausstellungsgegenstand saß. Albern war hingegen der Gang der Zofen und Diener, die alle drei Schritte innehielten. Das sollte wohl den Zwang darstellen, in dem sie mit ihrer unsympathischen Herrschaft leben müssen, und der auch ihre Bewegungen bestimmt. Eine herrische Attitüde legte auch Hagen an den dämmernden Tag, als er Grane herumschubste. Dieser hatte nun einen Mantel an, der mehr an einen verlängerten Hausmeisterkittel gemahnte als an die Mäntel aus einem Italo-Western, was wohl eigentlich intendiert war. Dies war aber nur ein unwichtiges Detail, das hinter den großen Momenten dieser Götterdämmerung verschwand.

Einer davon war der Streit zwischen Brünnhilde und Waltraute (wiederum Kathrin Göring); vor allem Waltrautes Wut auf die egoistische Schwester blitzte absolut authentisch. Hier übertraf sich Kathrin Göring gegenüber ihrer Rolle als Fricka deutlich. Ebenso echt und markerschütternd gellte Brünnhildes Schrei nach der Bezwingung durch den falschen Gunther – zwar befand sich der Balkon als Brünnhildenfelsen im gleichen Bühnenbild, war aber durch intelligente Lichtregie als eigener Bereich kenntlich gemacht.

Aus ihrem feurigem Refugium gerissen, sah sich die Betrogene, wie eine Jagdbeute gefesselt, vor das Gefolge der Gibichungen gezerrt, ein gleichgestalteter Block von Soldaten in Phantasie-Uniformen, die an englische oder französische Vorbilder aus dem späten 19. Jahrhundert angelehnt, aber SA-Braun gefärbt waren. Als Chor ausgesprochen kräftig und synchron, lieferten diese Untertanen eine reife Leitung ab. Die Stierhörner waren diesmal eine gelungene Spezialanfertigung, gestreckten Alphörnen ähnlich, mit durchdringendem Klang.

Passend zu den starren Mannen trug Siegfried nun ebenfalls einen Mantel in SA-Braun, auch er sichtbar gleichgeschaltet, durch den Vergessenstrank von Hagen nicht nur seiner Erinnerung an die Geliebte, sondern auch seiner Identität beraubt. Des späteren Mörders Speer wurde durch einen Dolch ersetzt, was einerseits eine oft zu beobachtende Wotan-Assoziation zurückdrängte und andererseits den Meuchelmord ankündigte.

Brünnhildes Zorn beim Eid vor dieser Tat war wieder einer dieser starken Augenblicke, dem Gunthers Schwäche, der buchstäblich am Boden – nämlich an Hagens Beinen hängend – gegenüberstand. Der Entschluß der drei zum Mord an Siegfried geriet zum finsteren, statischen Tribunal.

Dem Trio als Naturgeister entgegengesetzt wandelten die Rheintöchter jungmädchenhaft in Paillettenkleidern. Zwar brachten die Tänzer wieder Unruhe in das Geschehen, dafür schimmerten die Lichtreflexe des bewegten Wassers stimmungsvoll und klar.

Organisierte Großjagden haben in Deutschland eine düstere Tradition, die sich von Wilhelm II. über Göring bis zu Honecker zieht. Diese Assoziation lag nahe, als Siegfried hier das erlegte Wild der Mächtigen war und folglich auf der anderen Beute, einem kapitalen Hirsch, von Hagen mit dem Dolchstoß zur Strecke gebracht wurde. Als Bild funktionierte das, wenngleich es inhaltlich ein bißchen dicke war.

Nach dem folgenden Trauermarsch mit seinem genialen Wechsel von Moll nach Dur im Todesmotiv wandelten wieder die Götter umher, ratlos und stumm. Als Siegfrieds Bahre diente der Protzflügel, dazu schien er der Gesellschaft offenbar gerade gut. Sein Mörder Hagen machte sich beiläufig die Fingernägel mit der Mordwaffe sauber, ein grandios fieser Einfall.

Am 19. Januar blieben die vom Schnürboden hängenden großen Lappen bis auf einen hängen, der dann als Siegfrieds Leichentuch diente. Offenbar hätten sie alle, rot angestrahlt, auf den Boden herabfallen sollen.

Dort lagen die Attribute der Götter auf dem Haufen aus starken Scheiten, sie selbst irrten wieder im Kreise umher, wurden aber durch Huckauf-Dämone verfolgt, die ihnen ans nichtewige Leben wollten. Hier ergab die Tanztruppe Sinn.

Insgesamt hätte mehr Lametta bzw. Feuer sein dürfen beim großen Weltenbrand, aber feurig war in jedem Falle der musikalische Abgesang auf Walhalls Ende. Die Götter waren noch in den abgebrochenen Pfeilern sichtbar, bevor ihr Dasein verlosch. Aus den Ruinen der Burg wuchs neues Leben in Form einer wurmartigen Gestalt. Etwas hat überlebt und das war einer der verhüllten Tänzer, dessen Hand sich nach dem Himmel reckte. Ein neuer, besserer Mensch? Die Idee ist gar nicht verkehrt, wenn man an das Vorbild in der „Edda“ von Snorri Sturluson oder auch an Wagners Beschäftigung mit ostasiatischen Religionen denkt. Zwar stand er dem Buddhismus näher, aber möglicherweise steht hinter diesem Einfall der Gedanke an die hinduistischen Zeitalter, die sich ewig wiederholen.

Fazit der vier Tage in der Leipziger Oper: Ein „Jahrhundertring“ wie der, den Joachim Herz 1976 in Wagners Heimatstadt abgeschlossen hatte, ist es sicher nicht geworden. Die beiden schwerwiegendsten Kritikpunkte sind die oft unzureichende Personenregie und eben die fast immer überflüssigen Tanzeinlagen – Wagner haßte Ballett! Dennoch ist den Leipzigern ein großartiges Gesamtkunstwerk gelungen, mit immer wieder überwältigenden Gesamtleistungen und großartigen Solisten.

Das freundliche Personal der Oper und die gute Organisation der „Ring“-Tage im großzügigen Interieur des Haues schafften eine offene und gastfreundliche Atmosphäre. Gerade im Rückblick auf die in vieler Hinsicht tümelnde und rechtslastige Rezeption des 20. Jahrhunderts war hier erneut deutlich: der „Meesta“ verbindet!

Für das geplante Mammutprojekt der Oper Leipzig, 13 Oper Wagners im Jahre 2022 innerhalb von drei Wochen zur Aufführung zu bringen, kann man nur mit Siegfried sagen: „Frisch auf die Fahrt!“ Das wird was!

Andreas Ströbl, 24.1.2019

TRAILER (c) Oper Leipzig

Bilder siehe unten bei den Einzelbesprechungen