Frankfurt, Konzert: „Bach: Johannespassion“, hr-Sinfonieorchester unter Alain Altinoglu

Die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach gehört zweifellos zu den bedeutendsten Werken der abendländischen Musikgeschichte. Als dieses eindrucksvolle Passionsoratorium vor dreihundert Jahren das Licht der Welt erblickte, markierte es einen Meilenstein nicht nur in Bachs Schaffen, sondern auch in der gesamten Musikgeschichte. Die Johannes-Passion erzählt die Geschichte von Jesus von Nazareth gemäß dem Evangelium des Johannes – von seiner Gefangennahme, seiner Hinrichtung und seiner Grablegung. Vom mächtigen Chorsatz des Beginns bis zum zarten, innigen Schlussakt zieht sich ein emotionales Spektrum, das zu erschüttern vermag, wenn es entsprechend interpretiert wird. Durch das Opfer Christi öffnet sich den Sterblichen das Tor zum Himmel der Erlösung. Am 22. März in der Alten Oper Frankfurt bot das hr-Sinfonieorchester unter der Leitung seines Chefdirigenten Alain Altinoglu eine Aufführung, die bedauerlicherweise nur wenig überzeugte. Die Johannes-Passion, BWV 245, ist ein monumentales Werk, das Bach im Jahre 1724 während seiner Amtszeit als Thomaskantor in Leipzig komponierte.

© Ben Knabe

Es ist eines von zwei großen Passionsoratorien, die er hinterließ, das andere ist die Matthäus-Passion. Die Johannes-Passion ist in zwei Teile untergliedert und basiert auf dem Evangelium nach Johannes, wobei sich Bach für den Text hauptsächlich auf die Übersetzung von Martin Luther stützte. Anders als die Matthäus-Passion, die die Ereignisse um die Passion Christi ausführlich darstellt und eine umfangreiche narrative Struktur aufweist, konzentriert sich die Johannes-Passion auf eine tiefgründige Reflexion über den spirituellen und philosophischen Gehalt der Ereignisse. Musikwissenschaftlich betrachtet, zeichnet sich die Johannes-Passion durch ihre Vielfalt an musikalischen Formen und Strukturen aus. Bach verwendet eine reiche Palette von musikalischen Mitteln, um die dramatischen und spirituellen Dimensionen des Textes zu veranschaulichen. Dazu gehören chorische Sätze, Arien, Rezitative und instrumentale Zwischenspiele. Die Chorpassagen dienen oft als Kommentar und Reflexion über das Geschehen, während die Arien die Gefühle und Gedanken der einzelnen Figuren zum Ausdruck bringen. Die Rezitative verbinden die Handlungselemente. Bachs kompositorische Meisterschaft zeigt sich auch in der Verwendung von Kontrapunkt, Harmonik und Form. Durch komplexe kontrapunktische Passagen und elaborierte Strukturen schafft er eine musikalische Welt von großer Tiefe und Emotionalität. Besonders beeindruckend sind die Chorszenen, in denen Bach mit subtilen harmonischen Verschiebungen und dynamischen Kontrasten eine dramatische Spannung erzeugt, die den Zuhörer unmittelbar in das Geschehen hineinzieht. Die Johannes-Passion ist auch ein Werk von theologischer Bedeutung, das den christlichen Glauben in all seinen Facetten reflektiert. Bach verwendet musikalische Symbole und Motive, um theologische Konzepte wie Sünde, Buße, Erlösung und Gnade zu veranschaulichen. Durch die musikalische Gestaltung schafft er eine eindringliche Darstellung des Leidens und der Auferstehung Christi, die sowohl spirituell als auch emotional zutiefst berührt. Bachs Johannes-Passion ist von einer unermesslichen Größe und zugleich einer beeindruckenden Menschlichkeit durchdrungen. Sie lädt nicht nur zum Nachdenken über das Sterben Jesu ein, sondern regt auch zur Reflexion über Verantwortung, Liebe, Trost, Leben und Tod an. In der Frankfurter Aufführung übernahm das Vocalconsort Berlin in der Einstudierung von Christoph Siebert, ein Ensemble auf Solistenniveau, die dramatisch aufgeladenen Chorszenen. Der Chor zeigt sich als die kraftvolle Stimme des Volkes und der öffentlichen Meinung. Die 26 Sängerinnen und Sänger gefielen im homogenen Gesamtklang und durch ihre Intonationssicherheit. Sängerisch war das Vocalconsort der vokale Fels in der Brandung in feiner stimmlicher Ausgewogenheit. Im Textausdruck wirkte das Chor-Kollektiv zurückhaltend, so etwa in den Kreuzigungs-Aufforderungen. Die Solisten des Abends erwiesen sich allzu deutlich in ihrer Uneinheitlichkeit. Der Vortrag des Ensembles wirkte insgesamt lediglich solide und eher musikalisch bewältigt. Die Dramatik und Entwicklungen der einzelnen Figuren wurden hingegen kaum vermittelt, was der Aufführung zu viel sedierende Gleichförmigkeit zumutete, aber nicht berührend wirkte.

© HR/Werner Kmetitsch

Die beste Gesangsleistung erbrachte die ausgezeichnete Sopranistin Ilse Eerens. Mit glockenreiner und gefühlvoller Stimme gerieten ihre Arien zu den Höhepunkten der ambivalenten Aufführung. Mit innerer Beteiligung, obertonreichem Gesang füllte ihr Sopran mühelos den großen Saal der Alten Oper. Ihre Arie „Zerfließe, mein Herze“ war der solistische Höhepunkt. Das hatte große Klasse, die aber auch aufzeigte, wie deutlich die Niveau-Unterschiede waren. Florian Sievers gab einen zurückhaltenden Evangelisten, der in seiner zu starker Selbstkontrolle erzählerische Größe und Spannungsmomente vermissen ließ. Er wirkte nicht als Mittelpunkt des Geschehens und auch nicht spürbar emotional beteiligt. Musikalisch gestaltete er sicher seinen großen Part, wenngleich sein sehr kopfiger Tenor gewöhnungsbedürftig erklang. Raoul Steffani verkörperte textverständlich die Figur des Jesus, nur war er stimmlich leider fehlbesetzt. Bach schreibt einen Bass für diese Rolle vor, was Steffani mit seinem tenoral anmutenden lyrischen Bariton nicht ist. Auch wirkte seine Gesangslinie brüchig, weil die tiefen Töne nicht vorhanden waren. Seinem Gesang fehlten dazu Besonderheit und Charisma. Auch konnte er den Weg, den Jesus in seiner Entwicklung durchschreitet, nicht vermitteln. Wenn Jesus ausruft: „Mich dürstet!“ oder „Es ist vollbracht“, dann klang das bei Steffani lediglich alltäglich und nicht im Kontext des Erlebten. Paul Figuier (Altus) sang kultiviert und klangvoll, bei mäßiger Verständlichkeit des Textes, Stuart Jackson (Tenor-Arien) wirkte allzu unentschieden zwischen zu viel Säuselei und unmotiviert wirkenden Forte-Momenten. Kontrastreiche Handlungsmomente, wie sie in seinem finalen Arioso „Mein Herz…“ vermerkt sind („die Erde bebt“) konnte er nicht vermitteln. Bariton Samuel Hasselhorn als Pilatus wagte zwar kleine Textgestaltungen, blieb aber als Figur zu wenig expressiv, weil er auch die Bass-Lage als Bariton nur schwach abbilden konnte. Der Gewissenskonflikt, den Pilatus erfährt, blieb bei Hasselhorn lediglich Andeutung. Auch in seinen Arienbeiträgen fehlten die Kontraste und die stimmliche Sonorität, um dem Gesangsbeitrag Überzeugung und Emotionalität zu verleihen. Problematisch und nicht überzeugend war das Dirigat an diesem Abend von Alain Altinoglu, der so gar keinen hörbaren Bezug zum Werk vermitteln konnte. Bei Altinoglu gab es in der Vergangenheit häufig interpretatorische Wechselbäder. Starke Abende, wie z.B. sein letztes Frankfurter Konzert mit Schostakowitschs vierter Sinfonie stehen im deutlichen Kontrast zu sehr mäßigen Interpretationen, wie jüngst das verschenkte „La Mer“. Und es schmerzt, auch diesen Bach-Abend der letzten Kategorie beizuordnen. Eher einem romantisierenden Klangbild folgend, wirkte seine Auffassung viel zu monochrom und ohne inhaltliche Aussage. Bereits der einleitende Chor „Herr, unser Herrscher“ trat auf der Stelle und der drängende Rhythmus wirkte lediglich angedeutet und so ging es in einem fort. Seine Interpretationsansicht wirkte allzu oberflächlich. Hier hätte Altinoglu deutlicher an Artikulation und Phrasierung arbeiten müssen. Die Strukturen in den Chor- und Orchesterstimmen klangen nicht wirklich durchdrungen und entbehrten der Klarheit und der rhythmischen Prägnanz. Ein lediglich dekorativ anmutendes Dirigat erscheint für einen Dirigenten mit internationaler Reputation viel zu wenig. Das hr-Sinfonieorchester spielte klangschön und stilsicher, vor allem die Holzbläser sorgten für besondere Momente. Aber letztlich war der Klangkörper interpretatorisch wenig gefordert und wirkte in Teilen unterprobt. Das hr-Sinfonieorchester kann so viel besser sein und einem Abend prägende Gestalt geben. Ihm ist kein Vorwurf zu machen, denn damit ein Konzertvortrag diese Qualität erfährt, sollte ein Dirigent am Pult stehen, der über die Wiedergabe der korrekten Notenwerte weit hinausgeht. Ein bedauerlicher Umstand, der die vielversprechende Konzeption der Aufführung nicht zur vollen Wirkung kommen ließ. Es ist schmerzlich festzustellen, dass trotz des Potenzials der beteiligten Künstler und des vielversprechenden Ansatzes die erhoffte Qualität des Konzertabends verfehlt wurde.

Dirk Schauß, 23. März 2024


Johann Sebastian Bach:
Johannes-Passion, BWV 245

Alte Oper Frankfurt
22. März 2024

hr-Sinfonieorchester
Alain Altinoglu, Leitung