Was haben Maurice Ravel und Dirigent Carlos Kleiber gemeinsam? Sie bevorzugten die Konversation mit Kindern und hielten sich gerne mit ihnen in deren Kinderzimmern auf und spielten, anstelle sich mit Erwachsenen zu unterhalten. So ist es nicht verwunderlich, dass der Instrumentalzauberer Ravel sich außergewöhnlich tief in das Märchengenre einfühlen konnte.
In den Jahren 1908 bis 1910 schrieb Maurice Ravel eine Märchen Musik für Klavier. Inspiriert wurde er dabei von verschiedenen Märchenerzählungen, wie z.B. „Dornröschen“ oder „Die Schöne und das Biest“. Daher wählte er auch einen anderen Titel: „Ma mère l’oye“ (Meine Mutter Gans). Die Klavierkomposition zu vier Händen hielt er bewusst eher einfach, um sie vielen Instrumentalisten zugänglich zu machen. 1911 erfolgte dann die Orchesterfassung. Seither zählt dieses Stück zu einem der beliebtesten Werke des Meisters. Der exotische Zauber und die oft magisch anmutende Instrumentierung sind von bestechender Wirkung.
Ein gelungener Start mit Maurice Ravel! Mit seiner Musik konnte das gastierende Orchestre National de France seine Klangkultur eindrucksreich demonstrieren. Dessen rumänischer Chefdirigent, Cristian Macelaru, zeigte ein gutes Tongespür für die Erfordernisse dieser so zauberhaften Komposition. Er gab seinem Orchester hinreichenden Gestaltungsraum, welches die Instrumentalsolisten gut zu nutzen wussten.
Macelaru, selbst ein ausgezeichneter Geiger, hatte vor allem einen superben Streicherklang erarbeitet, der noch im feinsten Pianissimo alles abbildete, was die Musik verlangte. Im Verein mit den suggestiven Holzbläsern entstand eine hoch sensible Klarheit im Klangbild, wie sie nur wenige Orchester erreichen. Ein musikalisches Schatzkästlein wurde somit bereits am Konzertbeginn weit geöffnet, um die Zuhörer des Konzertabends zu verzaubern.
Reinhold Glière, der Russe mit deutsch-polnischen Wurzeln, war kein Erneuerer. Er sah sich als ein Vollblutromantiker – und das im Jahr 1938, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Glières Musik sucht die Schönheit im Klang und keine modernistischen Experimente. Als Traditionalist steht seine Musik in der Nähe zu Tschaikowsky und Rachmaninow.
Ein träumerischer Beginn, der wie eine innige Umarmung den Zuhörer umfängt und sogleich kann der Solist des Harfenkonzerts mit vielen Akkordabfolgen brillieren. Reminiszenzen an die Tonsprache früherer russischer Meister sind allgegenwärtig. Der Mittelsatz ist eine Oase der Ruhe, während im Finale viele Folklorismen russischer Prägung Verwendung fanden. Eine äußerst geschickte Instrumentierung und ein eher kleines Orchester stellen den Solisten in den Mittelpunkt. Glière nutzte gekonnt die vielfältigen Spieltechniken der Harfe, so dass dieses kostbare Meisterwerk die Harfe neu entdecken lässt.
Mit Xavier de Maistre wurde einer der besten Virtuosen seines Faches gewonnen, der aus dem Konzert jeden Effekt herauszauberte. Mit perfekter Technik und tiefem Stilempfinden machte er sein hinreißendes Harfenspiel zum vorgezogenen Festtagsgeschenk an die ihn bejubelnden Zuhörer. Äußerst wach, spielfreudig und mit unmittelbarem Erleben im eigenen Spiel, verschmolz er mit seinem edlen Instrument zu einer Einheit. Seinem ausdrucksstarken Charisma und dem endlosen Reichtum seiner Nuancen konnte sich keiner entziehen. Faszinierend seine dynamische Bandbreite vom intensiven Forte bis zum fein ausschwingenden Pianissimo.
Das Orchestre National de France veredelte dieses Konzert durch seinen hoch engagierten Vortrag. Wie zuvor bei Ravel, so waren auch hier wieder die Holzbläser besondere Akteure für solistische Glanzpunkte. Cristian Macelaru war ein Begleiter comme il faut!
Das Publikum wirkte in seiner Begeisterung völlig geblendet von diesem außerordentlichen Musikerlebnis. De Maistre zeigte sich davon bewegt und spielte großzügig weitere zehn Minuten mit zwei Zugaben. Zunächst eine virtuose Harfen-Variation (Godefroid: Carnaval de Venise) und dann ein inniges Kantabile, die Arabesque Nr. 1 von Claude Debussy, welche derart ergreifend geriet, so dass es einige Zeit dauerte, bis das Publikum seine Fassung wiederfand und ihn stürmisch bedankte.
Die Musik nach der Musik…., hier war sie zu erleben, welch schöner Augenblick!
Das Jahr 1886 markierte für Camille Saint-Saëns den Zenit seines Schaffens. In dieser Zeit schrieb er seine Sinfonie Nr. 3 in c-Moll, op. 78, die „Orgelsinfonie“. London zeigte großes Interesse an der Musik des Franzosen, so dass er von dort den Auftrag erhielt. Bei der Uraufführung in London bescherte ihm das Werk einen überragenden Erfolg – obwohl das Publikum sich sehr verblüfft zeigte.
Dass in einer Sinfonie eine Orgel vorkommt, zeigt den Stellenwert, den die Orgel in der französischen Musik des 19. Jahrhunderts hatte. Während sie in Deutschland oder Italien fast nur in Kirchen zu finden war, zählte die Orgel in Frankreich bereits zum festen Bestandteil der meisten Konzerthäuser.
Die „Orgelsinfonie“ besteht scheinbar aus nur zwei Sätzen. Tatsächlich entfernte sich Saint-Saëns kaum von der traditionellen Form einer viersätzigen Sinfonie. Die Gliederung ist nämlich vierteilig angelegt: Den Beginn markiert eine dramatische Einleitung, gefolgt von einem Adagio, dann das Scherzo und schließlich das pompöse Finale.
Auffallend dabei ist, dass die sog. Königin der Instrumente, die Orgel, einen eher kleinen Part zuerkannt bekam. Im zweiten Satz spielt sie zurückhaltende füllende Stützakkorde. Ganz anders dann das Finale. Gemeinsam mit einem vierhändig zu spielenden Klavier wird die Orgel lautstark in den Mittelpunkt des orchestralen Geschehens gestellt.
Cristian Macelaru hatte sein Orchester für dieses Werk auf einen üppigen Klang eingestellt, der es nicht an Transparenz fehlen ließ. Mit viel Temperamt musizierte der Dirigent kraftvoll und energiegeladen mit seinem Orchester nach vorne, ohne dabei in Hast oder Übermut zu verfallen. Wunderbar gerieten ihm dabei die Übergänge und ein deutliches Espressivo in den aufgeladenen Tuttipassagen.
Erkennbar zielte Macelaru auf das wirkungsvolle, glanzvolle Finale. Die Orgel donnerte nun in voller Pracht durch die Register, begleitet von dem entfesselt aufspielenden Orchester. Was für ein Enthusiasmus, eine Brillanz und überbordende Energie! Dieser gewaltige Schluss wurde erwartungsgemäß vom Publikum lautstark gefeiert.
Mit der zugegebenen „Farandole“ aus der „L’arlesienne-Suite“ von Georges Bizet wurde die Begeisterung nochmals heftig befeuert.
Dirk Schauß, 07. Dezember 2022
Besuchtes Konzert in der Alten Oper Frankfurt
06.12.2022
Maurice Ravel: Orchestersuite „Ma mère l’oye“
Reinhold Glière: „Konzert für Harfe und Orchester Es-Dur op. 74“
Camille Saint-Saens: „Sinfonie Nr. 3 c-Moll op. 78 / Orgelsinfonie“
Dirigat: Cristian Macelaru
Orchestre National de France
Solist: Xavier de Maistre (Harfe)