Frankfurt, Konzert: „hr-Sinfonieorchester“, Chausson, Saint-Saëns, Mussorgski

Was für ein schönes Programm! Russische und französische Orchesterfarben. Die Uraufführung des musikalischen Volksdramas „Chowanschtschina“ sollte Modest Mussorgski nicht mehr erleben. Er starb 1881 und 1886 erfolgte eine stark gekürzte Uraufführung des Torsos. Seine finale Oper blieb unvollendet. Zunächst komplettierte und instrumentierte Nikolai Rimski-Korsakow eine Fassung, die viele Jahrzehnte auf den Bühnen gespielt wurde. Dann traten Stravinsky und Schostakowitsch auf den Plan. Beide schufen eigene Instrumentierungen, wobei heute meistens die Version Schostakowitschs zu hören ist.

© hr/Ben Knabe

Im Westen hat es Mussorgskis Oper schwer und so ist vor allem das überaus beliebte Vorspiel zum ersten Akt im Konzertsaal anzutreffen. Bereits dieses herrliche Stimmungsbild stellte den Komponisten vor gewaltige Probleme bei der Komposition. Gut ein Jahr benötigte Mussorgski, bis die gut sechs Minuten Musik geschrieben waren! Es beschreibt den anbrechenden Morgen am Fluss Moskwa. Feinste Natureindrücke und -stimmungen sind zu erleben. Ein idealer Beginn für Chefdirigent Alain Altinoglu, der eine sensible Hand für diese Farbvaleurs hat. Das gut eingestimmte hr-Sinfonieorchester überzeugte hier mit sehr sanften Streicherfarben und fein ausgehörten Bläserstimmungen. Vor allem der seidige Ton der Streicher im fein umwölkten Pianissimo war eine besondere Hörerfahrung.

1896 schrieb Ernest Chausson sein bis heute bekanntestes Werk für Violine und Orchester „Poème“, einen Liebesgesang in rhapsodischer Form. Es ist kein typisches Bravourstück für die Solo-Violine, die hier ganz kantabel im Fokus steht. Der Solist ist gefordert, einen großen musikalischen Bogen zu formulieren, um seine Phrasierungen mit der notwendigen Gefühlstiefe zu artikulieren. Eine wunderbare Gelegenheit also für jeden Geiger, den Pfad der Virtuosität einmal in den Hintergrund zu stellen.

Solist des Abends war der „Artist in Residence“ Emmanuel Tjeknavorian. Dieser besonders begabte Musiker begeisterte bereits die Frankfurter Zuhörer mit einem stimmungsvoll dargebotenen Violinkonzert von Jean Sibelius. Dieser schöne Vortrag geriet jedoch in den Hintergrund durch sein famos geglücktes Dirigenten-Debüt beim hr-Sinfonieorchester zu Beginn des Monats. Es bleibt spannend abzuwarten, wie Tjeknavorian künftig seine Karriere gestalten wird. Denn an diesem Abend legte er wiederum seine Vorzüge als Geiger offen. Mit gereifter Emotionalität und herausragender Tongebung gelang ihm eine ausgezeichnete Wiedergabe, die keinerlei Wünsche offenließ. Mit höchster Sensibilität fühlte sich der junge Solist tief in die Gefühlsmomente hinein und sorgte so für tief empfundene Ruhepunkte. Absteigende Triller am Schluss waren feinster Ornat, womit Tjeknavorian seine kantablen Phrasen ausschmückte. Hand in Hand ging er dabei zusammen mit dem hr-Sinfonieorchester, welches ihn mit vorbildlicher Klangqualität herrlich einrahmte. Was die Zuhörer im ausverkauften Saal der Alten Oper erleben konnten, war eine berührende Symbiose aus Orchester und Solist im feinsten Lyrismus, gleichberechtigt in der Klanggestaltung und hoch aufmerksam im gemeinsamen Musizieren. Alain Altinoglu zeigte gerade hier wieder seine besondere Affinität zu fein ausbalancierter Farbgebung.

Im Anschluss wurde es beschwingt. Camille Saint-Saëns “Caprice d’après l’etude en forme de valse ist eine wirkungsvolle Komposition, um auch hier dem Solisten an der Violine schönste Wirkungsmöglichkeiten zu gewähren. Hier konnte Tjeknavorian seine große technische Virtuosität formidabel entfalten. Hinzu kamen Spielwitz und feine Ironie, so dass das Publikum mit größtem Entzücken darauf reagierte. Brillanz und Klangschönheit im Spiel von Tjeknavorian waren bestechend. Alain Altinoglu hatte sein reaktionswaches Orchester auf einen kontrastfreudigen Konterpart eingestellt. Gelungene Agogik und knackige Akzente in den Sforzati verliehen dem Orchesterspiel viel Prägnanz und deutlichen Charakter.

Natürlich gab es eine Zugabe. Und wie schön, an dieser war auch das hr-Sinfonieorchester beteiligt. Als Tjeknavorian den Titel ankündigte, waren freudige „Aaaahhh’s….“ aus dem Publikum zu vernehmen. Mit größter Delikatesse und einem tief empfundenen Herzenston zelebrierten die Musiker eine sehr bewegende „Meditation“ aus der Oper „Thais“ von Jules Massenet.

Am Ende dann Maurice Ravel als genialer Instrumentator der „Bilder einer Ausstellung“ von Modest Mussorgski. 1874 komponierte Mussorgski dieses Werk für Klavier. Angeregt wurde er durch eine Ausstellung seines 1873 gestorbenen Freundes, dem Maler Viktor Hartmann.

(c) hr/Lukas Beck

Natürlich nutzte das hr-Sinfonieorchester im zweiten Konzertteil die Gelegenheit, bei Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“ sein großartiges Können zu demonstrieren. Grotesk hüpfte der „Gnomus“, geheimnisvoll ertönte das Saxophon aus dem „alten Schloss“ und im Eiltempo waren die „Tuilerien“ durchschritten.  Dann kam der erste große Höhepunkt mit einer klanglichen Überraschung. Ruppig und wuchtig schwer wackelte dann der „Bydlo“ mit ungewohnt schroffem Streicherklang und herrlich kräftigen Akzenten am Zuhörer vorbei. Dieses sehr plastische Charakterbild in Tönen, wunderbar getroffen von Altinoglu und seinem Orchester, war unvermutet, da der Dirigent sonst oft in der Vergangenheit gerne der Klangschönheit dem Vorzug gegenüber der Charakterisierung gab.

Sarkastisch und beißend zugleich die Solo-Trompete in „Samuel Goldenberg und Schmuyle“. Großes Getöse im komponierten orchestralen Durcheinander mit herrlich virtuosen Bläsern beim „Jahrmarkt von Limoges“. Es folgte der große Klangauftritt der formidablen Blechbläser beim Blick in die „Katakomben“, große Klasse. Ein furioser und hinreichend derber Hexentanz mit knalliger Pauke und kräftiger großer Trommel dann in der „Hütte der Baba Yaga“. Dann endlich das große Klangfest im Finale: hier zeigte Altinoglu eine überlegende dynamische Dramaturgie im Aufbau des „großen Tors von Kiew“, um mit intensivem Glockenklang und wiederum kräftigen Akzenten diesen schönen Konzertabend begeisternd abzuschließen.

Das hr-Sinfonieorchester war an diesem Abend im intensiven Dialog seiner Musiker zu erleben. Immer wieder zeigten die Mitglieder ihre hohe Spielkunst als individuelle solistische Persönlichkeiten, um sich dann wieder als orchestrales Kollektiv gemeinsam in höchster Homogenität zu einen. An allen Pulten gab es ausnahmslos Anlass zur Freude. Ja, sogar die Gruppe des Schlagzeugs, diesmal endlich offensiv gefordert und mit den einzelnen Spielern am für sie adäquaten Instrument, gefielen außerordentlich.

Begeisterter Applaus.

Dirk Schauß, 26. November 2022


Frankfurt, Alte Oper

Besuchtes Konzert am 25. November 2022

Modest Mussorgsky Ouvertüre zur Oper „Chowanschtschina“

Ernest Chausson: „Poème op. 25“

Camille Saint-Saëns: „Caprice d’après l’etude en forme de valse“

Modest Mussorgski/Maurice Ravel: „Bilder einer Ausstellung“

Dirigat: Alain Altinoglu

hr-Sinfonieorchester

Emmanuel Tjeknavorian, Violine