Dessau: Samson et Dalila

Premiere: 3.6. 2017

Einfach wundervoll

Camille Saint-Saëns, dieser wohl immer noch unterschätzte Komponist schönster Musik, hat sich mit besonderer Zuneigung auf der Bühne und in seinen Vokalkompositionen den antiken Stoffen zugewandt. Dass er seine erste Große Oper einem biblischen Bericht abgewann, ist dagegen eher ein Zufall. Auch sollte Samson et Delila zunächst in Gestalt eines Oratoriums auf die Welt kommen; das Bühnenwerk trug denn auch in seiner vollendeten Gestalt stark oratorische Züge – so wie umgekehrt Händels Oratorien und Bachs Passionen heute bisweilen in szenischer Gestalt auf die reale Bühne kommen. Was den Komponisten am Stoff wohl am ehesten interessierte, war die Möglichkeit, die Partitur exotistisch anzureichern; seit 1873 war er ja auch mit dem geliebten Algerien vertraut. Der dramatische Konflikt zwischen Hebräern und Philistern, zwischen dem starken Mann und der Femme fatale: das war das andere Element, das mit gläubiger Bibeltreue nicht verwechselt werden sollte. Kein Wunder, dass die beliebtesten Einzelstücke der Partitur nicht die oratorischen Chöre, sondern das Bacchanale und das schöne „Liebesduett“ der ebenso schönen wie fatalerweise bezaubernden Titelheldin blieben.

Wer die konzertante Aufführung des Anhaltischen Theaters Dessau besucht hat, konnte erfahren, dass das Stück, das übrigens in der Nähe Dessaus, nämlich in Sachsen-Weimar, nicht in Paris uraufgeführt wurde, aus weit mehr als zwei „Schlagern“ besteht. Hier gilt, was Arnold Schönberg einmal sagte: „Bei den großen Meistern gibt es keine ’schönen Stellen‘ – es gibt nur schöne Werke“. Schon der Schluss des ersten Akts reicht in zauberischer Intensität an das Duett heran – in Dessau verklingt es einfach wunderbar, weil die Anhaltische Philharmonie Dessau unter der Leitung der Kapellmeisterin Elisa Gogou den echten Saint-Saëns mit seinen stilistischen Anklängen an die Musik der „Alten“ (Mendelssohn, Händel, sogar Bach) wie mit seinen originellen und exotistischen Kunststücken sehr subtil ins Heute bringt. NB: Saint-Saëns kannte und schätzte Wagner, aber er war kein Wagnerianer. Und doch hört man – das ist sehr reizvoll – gelegentlich einen einzelnen Akkord, der geradewegs aus dem „Tristan“ oder der „Walküre“ ausgeschnitten sein könnte. Beim Bacchanal aber und besonders beim Opfergesang für den Philistergott Dagon erlebt man pure Zukunftsmusik: das Orchester spielt das wilde Stück „Gloire à Dagon vainqueur“, das wie ein Vorschein der genialen Filmmusik Maurice Jarres zu „Lawrence of Arabia“ klingt, mit Lust und aufpeitschender Eleganz. Kein Wunder, dass die relativ wenigen Zuhörer an diesem Pfingstsamstag am Ende sehr stürmisch und sehr lang applaudierten.

Es liegt an der Musik selbst, doch vor allem an den Sängern. Wer immer es bedauert, dass Saint-Saëns‘ Meisterwerk hier nicht szenisch gebracht wird, mag sich den oratorischen Charakter der Akte 1 und 3 und die Möglichkeiten einer brutalistischen Regie vergegenwärtigen. Das Drama wird durch die Musik, ja durch die Sänger gemacht; in einer konzertanten Aufführung merkt man es erst richtig. Bevor nun aber der Opernfreund in den Verdacht gerät, ein pauschaler Gegner des sog. Regietheaters zu sein, kann er darauf hinweisen, dass die Partitur dieser Oper von besonderer Kostbarkeit ist und in der konzertanten Aufführung mit allen impressionistischen Orchesterfarben und -details und allen stimmlichen Nuancen optimal gewürdigt und gebracht werden kann. Mit Rita Kapfhammer und Ray M. Wade, Jr. steht denn auch ein ganz wunderbares Paar auf der Bühne: ein vokales „Traumpaar“, das vergessen lässt, das die schöne Frau zu den ganz wenigen – pardon für den Jargon – „Schlampen“ der Oper zählt, die den „Helden“ ohne jeglichen Skrupel, doch stattlich ausgerüstet mit den Waffen einer Frau, ins Verderben stürzt. Oder ist sie eine Widerstandskämpferin im Kampf gegen einen Gegner, dessen monotheistische Anmaßung nicht zurecht mit allen Mitteln bekämpft werden muss? Repräsentiert Dalilas Stärke nicht ein legitimes Mittel im Kampf gegen die Hebräer, die unbegreiflicherweise nicht einsehen wollen, dass es in der Antike nicht nur einen, sondern 1000 Götter gibt?

Der glückliche Opernfreund muss sich diese ideologiekritischen Fragen nicht stellen, denn Rita Kapfhammer überwältigt auch ihn durch ihre dunkle Stimme – die Stimme einer feinfühligen Dame, nicht einer schrillen Circe, Kein Wunder, dass Samson über weite Strecken nur „Dalila! Dalila! Je t’aime“ stammeln kann… Wunderbar, mit welchem edlen und vitalen Timbre sie in die Verführung einsteigt; das Terzett und der Schluss des ersten Akts gehören ab „Printemps qui commence“ zu den Höhepunkten der Aufführung, die keine Tiefpunkte aufweist. Schon die lyrische Zärtlichkeit, mit der der erste Akt ausklingt, ist, nicht zuletzt dank des Orchesters, das Eintrittsgeld wert. Thomas Mann hat in seinem „Doktor Faustus“ den Gesang der Dalila des Duetts beschrieben, als habe er Rita Kapfhammer gehört: er „war wundervoll in seiner Wärme, Zärtlichkeit, dunklen Glückesklage“. Ita est.

Ray M. Wade, Jr. ist das, was man als sensibel bezeichnet. Er kann alles: hymnisch tönen – und delikat gestalten. Hier die „Röhre“ beim patriotischen Lobpreis Gottes, dort die Schönheit, mit der er zusammen mit der Geliebten den Zwiegesang des zweiten Akts macht und noch im katastrophalen Schlussbild keinen Zweifel daran lässt, dass dieser Samson ein gefallener Herkules ist. Wade, Jr. ist ein Heldentenor mit lyrischen Spitzen, nein – ein lyrischer Tenor mit einer kraftvollen Basis und Höhe. Auf jeden Fall ersingt er sich mit seiner vollkommenen Rollengestaltung die Liebe des Publikums, das keine Szene benötigt, um vom politisch inspirierten Liebesdrama gebannt zu sein. Dritter im unheilvollen Bund ist der Oberpriester des Dagon, also der Bariton neben dem Tenor und dem Mezzo, in diesem Fall Ulf Paulsen, der mit erregt zitternder Stimme die hasserfüllten Exaltationen des Repräsentanten des heidnischen Gottes vehement heraussingt. Mit Dominic Barberi steht daneben ein erstrangiger Bass auf der Bühne, der bei seinen kurzen Auftritten als Abimélech (der glücklich erschlagene Satrap des philiströsen Gaza) und als „ein alter Hebräer“ (die vergebliche Stimme der Warnung vor den Reizen des feindlichen Weibes) schlichtweg begeistert.

Am Anfang aber hören wir den Opernchor des Anhaltischen Theaters, einstudiert von Sebastian Kennerknecht. „Damson et Dalila“ ist in den Außenakten eine Chor-Oper; hier darf der Anhaltische Opernchor zeigen, wofür er bezahlt wird. Also: ein voller Erfolg, der unter der Leitung von Elisa Gogou die Saison glanzvoll abschloss. Oder, um es mit Thomas Manns Erzähler Serenus Zeitblom zu sagen: einfach „wundervoll“.

Frank Piontek, 5.6. 2017

Foto (c) Anhaltisches Theater Dessau