Premiere am 15.12.2018
Total unkonventioneller Rossini
Mit Rossinis letzter italienischsprachiger Oper, dem Dramma giocoso „Il viaggio a Reims“, also einer klassischen opera buffa, ging das interessante und vielseitige Saisonprogramm der Ópera de Tenerife im futuresken Auditorio Ádán Martín am Hafen von Santa Cruz im Dezember weiter. Diesmal war es anders als sonst eine Eigenproduktion der Ópera de Tenerife.
Vielleicht war das auch einer der Gründe, dass die Produktion dieser Rossini-Oper sich so gänzlich gegen die gewohnte Aufführungspraxis des Stücks stellte. Und da kommen wir gleich zur Regisseurin, denn diese war keine andere als die opern-weltweit und gerade auch in Wien umjubelte Stefania Bonfadelli. In einem Künstlergespräch vier Tage vor der Premiere, bei dem es allerdings überwiegend um die Rolle der Frau in der Opernarbeit ging, sagte sie – für mich wenigstens doch überraschend -, dass sie 2016 mit dem Singen aufgehört hatte und seitdem in die Regie gewechselt sei. Bisher hat Bonfadelli „Don Pasquale“ hier auf Teneriffa und „Un giorno di regno“ beim Festival della Vale d’Itria in Martina Franca inszeniert inkl. Ausstattung.
Nun, in der „Reise nach Reims“ kommen allerhand komische bis (leicht) verrückte Personen vor, die ja alle nur das eine Ziel haben, zur Krönung des französischen Königs Karl X nach Reims zu reisen. Wenigstens stellen sie es so dar, obwohl es im Verlauf der Handlung auch andere, eher amouröse (Unter-)Ziele gibt. Das Stück bietet sich somit für Interpretationen mit mehr als einem Augenzwinkern an, öffnet es doch einen weiten Spielraum für Regisseure. Und den hat Bonfadelli wahrlich genutzt und auch in einem in dieser Hinsicht positiven Sinne mit einem nicht zu übersehenden Wink mit dem Zaunpfahl auf die derzeitige Lage der Welt zu nutzen gewusst. Sie hatte ja selbst einige der Rollen über viele Jahre als Sängerdarstellerin verkörpert, insbesondere die der Corinna, sodass ihr eine Interpretation nun aus der Sicht der Regisseurin leichter fiel.
Bonfadelli geht bei ihrem Regiekonzept von drei Determinanten aus, nämlich der Versammlung aller zu einer gemeinsamen Reise, ihrer internationalen Herkunft und ihrer gemeinsamen Passion, nämlich dem neuen König Karl X von Frankreich zu huldigen. Ausgehend davon kam sie zu der ja durchaus berechtigten Auffassung, dass es mit der Brüderlichkeit und dem Ideal der Zusammenarbeit unter den verschiedenen Nationen momentan nicht gerade zum Besten bestellt ist, und zwar nicht nur in Europa angesichts der nahezu utopisch erscheinenden Illusion einer wirtschaftlichen und sozialen Integration. Ja, sie meint sogar, dass man selbst in ihrem Heimatland Italien eigentlich nur zu einem Minimum an nationaler Verständigung kommt, wenn die Fußballnationalmannschaft spielt. (Wie viel schwerer als für den Außenstehenden erkennbar muss es also gewesen sein, dass die „Squadra Azzurra“ bei der letzten WM gar nicht dabei war…).
Bonfadellis Lösung für die komplexe und für sie also dreidimensionale „Reise nach Reims“ war also der Sport, und zwar in ihrer sonnigen Inszenierung statt Rossinis Badehotel „Zur goldenen Lilie“ eine Tennis-„Akademie“ mit einem von Serena Rocco auf die Bühne gebauten Tennisplatz. Hier kommen alle nach und nach zusammen und gehen ihrer sportlichen Leidenschaft und eben einigen anderen begeistert nach. Denn die Regisseurin sieht, und damit liegt sie ja durchaus richtig, in den Sportchampions die Könige der heutigen Zeit. Ein gutes Bundesliga- oder gar Championsleague-Spiel bringt sicher höhere Einschalt-Quoten als eine „Queen‘s Speech“ zum Beginn des Sitzungsjahres des Britischen Parlaments. Und doch ist man überrascht, wenn man das dem Inselvulkan Teide nachgebildete Auditorium betritt und schon lange vor Beginn den Tenniscourt auf der Bühne sieht, mit den sich darauf tummelnden Spielern. Bälle fliegen nicht, die Töne der Schläge kommen aus den Off, man sieht nur Pantomimen. Damit ist zunächst mal kaum etwas anzufangen…
Es ist also wieder mal eine Inszenierung, zu der ein intensiver Blick ins Programmheft erforderlich ist. Aber das kann man Bonfadelli kaum anlasten: Dieser Blick war allen Interessierten mit den kostenlos vor den Saaleingängen liegenden Programmheften noch vor Beginn des 1. Akts möglich… Es handelte sich auch nur um eine Seite!
Die Regisseurin zieht daraufhin ihr Konzept mit gnadenloser Konsequenz im Tenniscamp durch. So beginnt erst mal die Kanarierin Silvia Zorita als Maddalena, Gouvernante der Tennis-„Akademie“, sich mit klingendem Mezzo über die Rückstände bei der Vorbereitung auf die illustren Gäste zu beschweren. Dann gibt die Rumänin Alexandra Grigorias als Madama Cortese und Eigentümerin des Unternehmens ihr Stelldichein mit einem guten, wenn auch eher hellen und nicht allzu großen Sopran, jedoch schönen Koloraturen. Alberto Camón ist der Sportarzt mit einem etwas harschen Bass. Das Stück nimmt Fahrt auf mit der Ankunft von Leonor Bonilla als Contessa di Folleville, die trotz Ansage mit einem klangvollen und variationsreichen Sopran sowie überzeugend kokettem Spiel begeistert. Belfiore kommt als spanischer Aristokrat in Person des lyrischen costaricanischen Tenors David Acosta mit der polnischen Gräfin Marchesa Melibea ins Spiel. Bei gutem Sitz ist Acostas Stimme höhensicher, aber im Volumen noch ausbaufähig, während die Italienerin Aurora Faggioli als Melibea mit ihrem perfekt geführten, wortdeutlichen und farbenreichen Mezzo glänzt.
Das stellt sie noch eindrucksvoller bei ihrem späteren Duo mit ihrem Partner Graf Libenskof unter Beweis, der sie mit allen Mitteln in die kurzerhand auf die Bühne geschobene hochmoderne Damendusche verfolgt. Hier entblößt sich Faggioli nach und nach singend aller Kleidungsstücke, um eine „Trockendusche“ in einem hautengen und -farbigen Tight zu nehmen, in dem man die Wiener Salome nach ihrem Schleiertanz allenfalls 0,5 Sekunden sieht… Dazu singt sie auch noch wunderschöne Koloraturen. Auch ihr Anbeter, der Italiener Francesco Castoro als Libenskof, noch mit CCCP-Aufdruck auf dem roten T-Shirt, steht ihr an stimmlicher Qualität nicht nach. Er verfügt über einen kraftvollen Tenor mit guter Stimmführung, überaus geeignet für das italienische Fach, in dem der Rodolfo schon bald kein Problem sein sollte. Darstellerisch ist er etwas unbeholfen, fällt auch vom wohl mit dem sportlichen Regiekonzept verbundenen und auffällig weitgehend eingehaltenen Schlankheitsideal ab.
Rocco Cavaluzzi als Lord Sidney, ein englischer Cornel, heimlich in Corinna verliebt, kann stimmlich mit seinem Bass weniger überzeugen. Hingegen lassen der Bass-Bariton Lorenzo Barbieri als herrlich fabulierender Don Profondo mit sehr guter Phrasierung und Nicolò Donini als agiler Zeremonienmeister der Siegesfeier eines Wimbledon-Finales aus den 1980er Jahren (man sieht auf einer Leinwand auch reale Spielszenen mit Björn Borg) gute Bässe hören. Auch die weiteren Nebenrollen dieses sehr personalintensiven Stücks sind gut und besonders „sportlich“ besetzt.
Last but not least nun aber zur Corinna der Italienerin Giuliana Gianfaldoni, die mit der weiblichen Hauptrolle dann doch die anderen noch in den Schatten stellte. Ihre Arie im Finale über die Tugenden des neuen Monarchen, gesungen aus dem Schiedsrichtersitz am Court, gehörte zu den vokalen Höhepunkten des Abends. Sie war u.a. schon Konstanze bei den Salzburger Festspielen. Perfekte Stimmführung, eine gute Tiefe bei bester Diktion und großer stimmlicher wie mimischer Ausdruckskraft sind die Vorzüge dieser äußerst musikalischen Sängerin.
Statt einer Krone für Karl X bekommt also hier ein Tennisspieler, der mit der Tricolore behangen aus dem Publikum auf die Bühne schreitet, den Wimbledon-Pokal, und alle sind am Ende happy über ihre Art der „Reise nach Reims“. Immer wieder sorgten beherzte Showeinlagen für bisweilen leichte Unterhaltung und auch Erheiterung im Publikum. Die Kostüme von Valeria Donata Bettella waren ebenso perfekt auf die Thematik zugeschnitten wie das exzellente Lichtdesign von Fiammetta Baldiserri.
Die junge aus Taiwan stammende, aber mit acht Jahren nach Wien gekommene Yi Chen Li, wo sie an der Universität für Musik und darstellende Kunst Dirigat und Violine studierte, stand am Pult des Symphonieorchesters von Teneriffa und ließ einen schmissigen und engagierten Rossini musizieren. Sie komplettierte damit auch das ausschließlich aus Damen bestehende leading team. Chen Li legte besonders Wert auf die legendären Rossinischen Steigerungen, die sie auch immer mit der ohnehin quirligen Aktion auf der Bühne zu harmonisieren wusste. Engster Kontakt zu allen Mitwirkenden war ständig spür- und sichtbar. So wurde diese „Reise nach Reims“, die letztlich gar keine wurde, eine Opernaufführung aus einem Guss und erntete trotz der ungewöhnlichen Aufmachung großen Applaus beim Inselpublikum. Im März geht es mit „Turandot“ weiter. Wir werden berichten.
Fotos: Miguel Barreto
Klaus Billand 3.1.2019