Graz: „Barbe-bleue“

Première: 22.6.2013,, besuchte Vorstellung: 30.6.2013 (2. Kritik)

MIT HARNONCOURT

Das Motto der diesjährigen Styriarte lautet „Gefährliche Liebschaften“ – und da ist natürlich die Blaubart-Produktion mit Nikolaus Harnoncourt auch thematisch ein zentraler Glanzpunkt des rund fünfzig Termine umfassenden Programms der Steirischen Festspiele. Die Première war ein großer Erfolg bei Publikum und auch in den Medien – selbstverständlich hat auch der Opernfreund bereits darüber berichtet. Man weiß, dass die Probenzeit sehr knapp war – „10 hochkomprimierte Probentage non-stop“ (so ein Zitat aus dem Kreis der Ausführenden), also ist es mehr als legitim, heute nochmals zu berichten, weil inzwischen Routine und Erfahrung die Produktion stabilisiert haben.

Der große deutsche Kunstkenner Oscar Bie hat in einer Kritik des Jahres 1929 folgendes über das Werk geschrieben:

„Und ist es nicht eigentlich doch eine hübsche Idee, die Blaubart-Sage so zu persiflieren, dass man plötzlich entdeckt, Blaubarts Frauen seien gar nicht gestorben….Und wie nett, dass Blaubart selbst zwischen der sechsten und siebten Frau steckenbleibt, weil er die siebte nicht kriegt, und weil die sechste, ein Mädchen aus dem Volk, ihn so fängt, dass alles ein glückliches Ende nimmt…. Es ist eine so drollige Mischung von Lyrik und Ironie, wie sie in keiner anderen Operette getroffen wird. Orpheus ist parodistischer, die Helena historischer, aber Blaubart ist so reizend aus beiden Elementen zusammengerührt, dass das Stück rein aus der Qualität der Weltanschauung lebensfähig bleibt… Und wie blüht auf diesem Grund die Musik. Wie lacht die Tragödie und wie ernst nimmt sich die Komödie…. Es ist nicht Oper, es ist auch nur zeitweise Parodie, es ist etwas viel Höheres: das wunderbar schillernde Reich voll von Lebenswahrheit auf der Grenze der große Schicksale und des allüberwindenden Humors.“

Eines ist jedenfalls sicher:

Nikolaus Harnoncourt und seinem Sohn Philipp Harnoncourt – zuständig für Regie, Bühne und Licht – ist es gelungen, im Sinne des Zitats von Oscar Bie das gesamte Ensemble in „allüberwindendem Humor“ zu einer Einheit zusammenzuschweißen. Das Ensemble ist an jedem Abend mit größtem Vergnügen am Werk. Zitat aus der köstlichen Facebook-Seite von Elisabeth Kulman: „ Insgesamt gibt’s 6 Vorstellungen, die wir – wie Barbe-bleue seine 6 Frauen – lustvoll hinter uns bringen!“ – und das überträgt sich spürbar auf das animierte Publikum. Übrigens: das Ensemble widmet in einer internen Absprache jeden der sechs Abende einer der Barbe-bleue-Frauen – der von mir besuchte Abend war also Blanche gewidmet. Kulman-Zitat knapp vor Vorstellungsbeginn: Arme BLANCHE, dein Schicksal ist besiegelt: Du wirst heute Héloïse, Éléonore, Isaure und Rosalinde in die ewigen Jagdgründe folgen! R.I.P. (Rest in pieces) . Blanche ist eben jene fünfte Frau, deren (vermeintlicher) Tod die Handlung der Opéra-bouffe auslöst, ist doch der im Dienste des Ritters Blaubart stehende Popolani von seinem Herrn beauftragt, nach dem Tode von Blanche eine Jungfrau zu finden, die er als nächstes zur Frau nehmen kann. Popolani veranstaltet unter den Dorfschönen einen Tugendwettbewerb, um Blaubart die Gewinnerin daraus als Jungfrau zu präsentieren. Die Wahl fällt auf Boulotte. Blaubart ist von ihrer verführerischen Schönheit angetan und lädt sie in seinen Palast ein. Und damit beginnen alle Verstrickungen, die sich am Ende so glücklich mit einer sechsfachen Hochzeit lösen.

Das Grundproblem aller Opernproduktionen der Styriarte ist, dass es keinen professionellen Bühnenraum gibt. In der Helmut-List-Halle – benannt nach Helmut List, dem Bauherrn der Halle und Chef der AVL List GmbH, eines in Graz ansässigen, international erfolgreichen Unternehmens im Bereich der Motoren- und Automobilentwicklung – begegnet dem Besucher moderne Architektur, die jedoch der feingliedrigen Stahlfachwerkkonstruktion des Vorgängerbaus, einer um 1950 errichteten Industriehalle, und der damit verbundenen industriellen Vergangenheit Rechnung trägt. Die ehemalige Fabrikshalle wurde 2002 vor dem Abbruch bewahrt und zu einem variabel bespielbaren Veranstaltungsort von höchstem Niveau umgewandelt. Aber die Halle ist eben keine Opernbühne im herkömmlichen Sinne. Philipp Harnoncourt schreibt im Programmheft: „Wir versuchen tatsächlich, Musiktheater im einfachsten Sinn des Wortes zu machen, ohne dabei von vornherein von den üblichen Spielregeln des Opernbetriebs auszugehen. Kann man vielleicht das Verhältnis von Musik und Bühne anders ausbalancieren? Kann man der Musik etwas mehr Raum geben, ohne dabei die Lust am Theater hintanzustellen? Muss es unbedingt eine konventionelle Bühne sein mitsamt einem komplett ausgeführten Buhnenbild?“

Philipp Harnoncourt hat gemeinsam mit der Kostümbildnerin Elisabeth Ashef und dem Team „Malerei und Animation“ eine ideale Darstellungsform gefunden und damit die von ihm selbst gestellten Fragen überzeugend beantwortet. Das Chamber Orchestra of Europe sitzt zentral in der Mitte, ist sichtlich mit Vergnügen hin und wieder auch in die szenischen Aktionen einbezogen; Solisten und Chor bespielen die Flächen rund um das Orchester, durch die Podien kommen sie auch nie in akustische Bedrängnis – und der wahre Mittelpunkt ist natürlich Nikolaus Harnoncourt, der mit sparsamen Gesten wie ein Puppenspieler alle Fäden zieht und zusammenhält. Diesmal gelingt Harnoncourt mit seiner Interpretation einfach alles: das Orchester spielt höchst animiert, prägnant und subtil, die bei Harnoncourt üblichen abrupten Schärfen harmonieren großartig mit zarten lyrischen Phrasen, es stellt sich französischer Esprit ein und die musikalische Spannung lässt trotz einer Aufführungslänge von dreieinhalb Stunden nie nach.

Das Ensemble führen der Titelrollen-Darsteller Johannes Chum und die Boulotte von Elisabeth Kulman an. Chum meistert mit seiner klaren Stimme die heikle Tenorpartie zwischen Rossini-Koloraturen, lyrischen und chansonhaften Phrasen sehr gut – schade nur, dass die darstellerische Doppelbödigkeit ein wenig fehlt. Man darf gespannt sein, wie ihm der Wechsel ins Wagnerfach gelingen wird: in Graz wird er im Herbst seinen ersten Lohengrin singen, in Erl folgen dann Loge, Stolzing und Parsifal….

Elisabeth Kulman (die man zuletzt in diesem Saal mit wunderbaren Wesendonck-Liedern gehört hatte) war der absolute Höhepunkt im Ensemble. Mit immenser Spielfreude, feinem sprachlichen Gefühl sich bewegend zwischen makellos gesungenem Französisch, einem von ihr selbst entwickelten „Ost-Mittel-Steierburgenländisch“ (ihr eigene Aussage!) in den gesprochenen Dialogen bis zur perfekten Ungarisch-Parodie im Finale – aber vor allem mit einer in allen Lagen wunderbar strömenden Stimme war sie wahrhaft unübertrefflich. Sie genoss es sichtlich und hörbar, einmal nicht Fricka, Brangäne oder Orpheus zu sein. Kulman hat mit dieser Rolle eine ganz neue Facette einer bedeutenden Bühnenkünstlerin gezeigt!

Im übrigen Ensemble fällt Sébastien Soulès als zwielichtiger Alchemist Popolani mit geschmeidigem Bass und darstellerischer Beweglichkeit auf. Überhaupt agiert das gesamte Ensemble einschließlich des auch in den Soli ausgezeichneten Arnold-Schönberg-Chors (Einstudierung: Mihal Kucharko) mit spürbarer und ansteckender Freude. Es gelang eine ideale Balance zwischen Natürlichkeit und Stilisierung der Bewegung. Elisabeth von Magnus war eine scharf konturierte Reine Clémentine, Thomas E. Bauer ein vor allem in den Dialogen prägnanter Höfling – und dann waren da noch jene drei, die schon vor zehn Jahren bei der ersten Offenbach-Auseinandersetzung von Harnoncourt in Graz dabei waren („Großherzogin von Gerolstein“ in der Regie von Jürgen Flimm): Sophie Marin-Degor und Markus Schäfer als Schäfer-, nein Prinzenpaar. Beide haben seither an stimmlichem Gewicht und darstellerischer Prägnanz gewonnen. Hervorragend die Charakterstudie von Cornel Frey als König Bobêche, der vor zehn Jahren in einer kleinen Nebenrolle unauffällig geblieben war, aber nun in Spiel und Stimme ins Zentrum rückte. Und an dieser Stelle sei es ausdrücklich gesagt: dieser Blaubart ist wesentlich geschlossener und übertrifft auf allen Linien die damalige mit Gags überladene Produktion.

Zum Schluss noch ein Wort zu der von Philip Harnoncourt verantworteten deutschen Dialogfassung: Es ist legitim und richtig, den Text zu aktualisieren, war es doch auch zur Zeit der Uraufführung für das Publikum besonders reizvoll, die Anspielungen auf die Gesellschaft des damaligen französischen Kaiserreich herauszuhören – und so schmunzelt und lacht man auch heute gerne, wenn österreichische Politiker, die Globalisierung, die „Unschuldsvermutung“ und die Sponsor-Bank apostrophiert werden. Aber in einem Punkt wird die Grenze des guten Geschmacks klar überschritten wird: das heikle Thema der in Graz bettelnden Slowaken sollte keinesfalls in der Zigeunerszene des Finales karikiert werden! Dringender Rat: diese Textpassage bei der bevorstehenden DVD-Produktion unbedingt herausnehmen – mit der Bettler-und Roma-Problematik scherzt man nicht!

Aber bleiben wir bei der erfreulichen Zusammenfassung:

Das war ein großer Abend zeitgemäßen und höchst lebendigen Musiktheaters – das Publikum umjubelte Nikolaus Harnoncourt und Elisabeth Kulman sowie das gesamte Ensemble.

Zum Schluss nochmals Elisabeth Kulman mit einem für alle Opernfreunde wichtigen Hinweis:

„Für alle, die es im TV/Stream verpasst haben und nicht nach Graz kommen können: Es dauert zwar noch ein bisschen, aber es wird eine "Blaubart"-DVD geben!“

Wir können uns darauf freuen!

Hermann Becke

Fotos: Styriarte, Werner Kmetitsch