Regensburg: „Saul“

Besuchte Aufführung: 4.7.2015 (Premiere: 25.4.2015)

Das Ende ist der Anfang oder Demontage des Barock

Eine Übernahme vom Theater Oldenburg, wo sie im Mai 2011 herauskam, stellt die Neuproduktion von Händels „Saul“ am Theater Regensburg dar, für deren szenische Einstudierung Regieassistent Sebastian Ukena verantwortlich zeigte. Hierbei handelt es sich indes rein formal nicht um eine Oper, sondern um ein Oratorium. Das erwies sich indes als nicht weiter bedeutsam. Der „Saul“ war nicht das einzige Werk, das Händel als Oper konzipierte, es aber mit Blick auf die damaligen Gegebenheiten in Großbritannien nicht in dieser Form aufführen durfte. Damals war es verboten, biblische Stoffe auf die Opernbühne zu bringen. Die einzige Möglichkeit, die ihm blieb, wollte er es überhaupt einmal öffentlich hören, bestand darin, es als Oratorium im konzertanten Rahmen zur Aufführung zu bringen.

Aurora Perry (Merab), Yinjia Gong (Jonathan), Anna Pisareva (Michal)

Von einer solchen Mentalität ist das heutige Musikleben weit entfernt. Händels Oratorien haben sich in den vergangenen Jahren zunehmend auch den Weg auf die Opernbühne erobert. Und bei „Saul“ war das Ergebnis besonders bemerkenswert, denn Lydia Steier hat das Werk als packendes, gut durchdachtes und geistig-innovativ hochkarätiges Musiktheater auf die Regensburger Bühne gebracht. Dabei hat sie den Zuschauer in Zusammenarbeit mit Katharina Schlipf (Bühnenbild) und Ursula Kudrna (Kostüme) zuerst ganz schön an der Nase herumgeführt. Wenn sich der Vorhang öffnet, erschließt sich dem Blick ein recht traditionelles Barock-Ambiente: Guckkastenbühne, Seitengassen, elegante Polstersessel, ausladende Reifröcke und Allonge-Perücken. Eine im Verfall begriffene, reichlich dekadent wirkende, wenn auch prächtig gekleidete Barock-Gesellschaft hat sich hier versammelt und harrt der Dinge, die da kommen werden. Auf wolkigen Höh’n thront Saul als Ludwig XIV – ein recht kitschiger Anblick. Wenigstens darf er das auf einem Theater auf dem Theater tun, womit bereits in diesem reichlich altbackenen Rahmen ein Stück Brecht hereinspielt.

amás Mester (Neid-Figur), Mario Klein „Saul), Julia Leihhold (Neid-Figur)

Dass es Frau Steier indes durchaus nicht um die Aufzeigung von konventioneller Barockseligkeit ging, wurde schnell klar. Der Barock war nur die erste Station auf einer Reise von der Händel-Zeit in die Gegenwart, wobei die alttestamentliche Ära gänzlich ausgeklammert wurde. Daran, dass es mit diesem Zeitalter nicht so das Wahre sein würde, konnte man bereits ganz zu Beginn erkennen, als eine altmodisch gekleidete Madonna mit einem Jesus-Jungen hereingefahren wurde. Auf einmal zog sich der Knabe bis auf die Unterwäsche aus und riss auch seiner Mutter Maria die Kleider vom Leib. Das war ziemlich harter Tobak, mit dem sicher nicht alle Katholiken einverstanden waren. Dennoch handelte es sich hierbei um ein starkes Bild, das seine Wirkung nicht verfehlte und bereits eine Ahnung von den wahren Intentionen der Regisseurin aufkommen ließ.

Anna Pisareva (Michal)

Diese haben sich dann auch bestätigt. Im Folgenden kam es auch zu einer immer stärker voranschreitenden Demontage des Barock. Der auf einem künstlichen Pferd von seinem Kampf gegen Goliath zurückkehrende, dessen Kopf stolz präsentierende David reißt sich plötzlich die blonde Perücke vom Kopf und legt die barocke goldene Rüstung ab. Darunter trägt er modernen Lederlook. Er kann mit der hier versammelten Barock-Gesellschaft nichts anfangen und blickt recht despektierlich auf sie herab. Nur scheinbar geht er auf Konfrontationskurs zu Sauls Exzessen und trachtet danach, das Volk auf seine Seite zu bringen. Damit hat er schnell Erfolg. Mit seinem Plädoyer für den Fortschritt bringt er die Menschen dazu, sich in der Zeit fortzubewegen, ihre lächerlichen barocken Kostüme abzulegen und dann die ganze barocke Guckkastenbühne nach und nach abzubauen. Im zweiten und dritten Akt beherrscht ein moderner Container die Bühne, der auch als Spielfläche dient. An die Stelle der Polstersessel sind simple zeitgemäße Gartenstühle getreten. Die Menschen tragen jetzt nüchterne graue Anzüge. Aller Glanz und Glamour ist verschwunden und eine neue Ära hereingebrochen. Nur Saul, der auch weiterhin im angestaubten Kostüm des Sonnenkönigs steckt, hält an der alten Zeit fest und bleibt dessen chancenloser Repräsentant.

Yosemeh Adjei (David), Anna Pisareva (Michal)

Dafür ist indes nicht in erster Linie sein eigener freier Wille entscheidend. Die ganze Zeit über steht er unter dem bestimmenden Einfluss zweier ihm zugeordneter, von der Regie dazuerfundener dämonisch anmutender Neid-Figuren, die zu Beginn im Freeze erstarrt sind. Als der Chor im ersten Akt auf einmal beginnt, sich seiner barocken Kostüme zu entledigen, werden die beiden von einer Frau und einem Mann verkörperten Neidlinge auf einmal lebendig und beginnen, Saul immer stärker zu bedrängen und ihn immer mehr in ihren maliziösen Bann zu ziehen. Diese beiden allegorischen Gestalten sind den ganzen Abend über präsent und lassen nichts unversucht, ihre Aufgabe der Dekonstruktion des bestehenden Herrschersystems so gut wie möglich zu erfüllen.

Dabei sind sie aber nicht allein. Auch David zeigt sich in solchen Machenschaften sehr geschickt. Er ist in Lydia Steiers Deutung durchaus nicht der konventionelle biblische Held, sondern ein manipulativ und rücksichtslos agierender moderner Machtpolitiker, der alles versucht, die Israeliten auf seine Seite zu bekommen und das Königsamt an sich zu reißen. In dem Maße, wie er die flatter- und sprunghafte Öffentlichkeit in seinem Sinne beeinflusst, zieht er auch fast die gesamte Familie Sauls erfolgreich auf seine Seite. Bei dessen ersten Tochter Merab kann er indes keine Pluspunkte für sich verbuchen, die zweite, Michal, heiratet er aber, nur um sie anschießend aufs Schlimmste zu vergewaltigen. Blutüberströmt fällt das Mädchen im Unterkleid aus dem Container. Hier zeigt die Regisseurin gekonnt das zeitgenössische Problem von Vergewaltigung in der Ehe auf. Jonathan verfällt David sogar in homoerotischer Zuneigung und wird dafür vom Chor im zweiten Akt stark drangsaliert.

Yosemeh Adjei (David), Chor

Auf diese höchst fragwürdige Weise erstrecken sich politische Belange bis in die intimsten Angelegenheiten der Familie hinein und zersetzten sie zunehmend. Wenn aber die Familie als Keimzelle der Politik leidet, kann auch letztere nicht mehr funktionieren. Diese Weisheit der alten Griechen hatte sicher auch schon in biblischen Zeiten ihre Berechtigung. Der ursprüngliche Erneuerer David erweist sich als Dekonstrukteur der übelsten Sorte, der nur an seinen eigenen Vorteil denkt und dem sein Volk herzlich egal ist. Dieses ist vom Regen in die Traufe gekommen; der Gedanke ist naheliegend, dass die Zustände unter dem traditionellen Saul doch besser waren. Man wünscht sich die vergangenen Tage wieder herbei – noch dazu, weil eine Besserung der Verhältnisse nicht in Sicht ist. Denn die beiden Neidlinge haben sich nach Sauls Tod umgehend dessen Nachfolger David, den Repräsentanten der Moderne, als Opfer auserkoren und setzen ihr intrigantes Treiben an ihm fort. Der Herrscher ist austauschbar, an den Verhältnissen aber wird sich nichts ändern. Das Ende ist der Anfang. Das ist die sehr pessimistische, zeitlos gültige Botschaft von Frau Steier, der insgesamt eine vorzügliche, handwerklich gut umgesetzte und spannende Inszenierung zu bescheinigen ist.

In musikalischer Hinsicht handelt es sich hier um eine Kooperation des Theaters Regensburg mit der Katholischen Hochschule für Kirchenmusik und Musikpädagogik. Nicht nur das Philharmonische Orchester Regensburg war an diesem Abend im Graben versammelt, auch Schüler und Dozenten der genannten Hochschule hatten sich eingefunden und unter der versierten Leitung von György Mészáros einen expressiven, von Feuer und Elan geprägten Klangteppich erzeugt, dem auch prägnante Akzente nicht abgingen.

Tamás Mester (Neid-Figur), Mario Klein (Saul), Julia Leidhold (Neid-Figur)

Durchwachsen waren die sängerischen Leistungen. Lediglich durchschnittlich schnitt Mario Klein in der Titelpartie ab. Seinem Saul fehlte es insbesondere an einem schönen appoggiare la voce und einer reichen Farbpalette, was seinen Vortrag etwas eindimensional wirken ließ. Man hat ihn schon besser gehört. Darstellerisch gab es hingegen nichts an ihm auszusetzen, genauso wenig wie an dem in schauspielerischer Hinsicht sehr überzeugenden David von Yosemeh Adjei, dessen zu stark auf der Fistelstimme beruhender Countertenor aber nicht gerade gefällig war. Da verfügte Yinjia Gong in der Rolle des Jonathan schon über weit besser sitzendes Tenor-Material. Florian Köfler war ein stimmgewaltiger, sonor und ausdrucksstark singender Prophet Samuel. Mit variablem Stimmsitz stattete Tenor Matthias Ziegler die Rock-Rolle der von der Regie mehrgeschlechtlich gezeigten Hexe von Endor aus. Er sang auch den Abner. Einen soliden, flexibel und leicht ansprechenden, wenn auch noch entwicklungsfähigen Sopran brachte Aurora Perry für die Merab mit. Übertroffen wurde sie von Anna Pisareva, die mit prachtvoller, hervorragend italienisch fokussierter, farben- und nuancenreicher Sopranstimme als Michal begeisterte. Das war die beste Leistung des Abends! In den stummen Rollen der beiden Neid-Figuren gefielen Julia Neidhold und Tamás Mester. Das Kind war aufgeteilt: Die Darstellerin war Magdalena Hubmann, die Sängern Monika Tschuschke. Auf hohem Niveau präsentierte sich der von Alistair Lilley bestens einstudierte Opernchor und Extrachor des Theaters Regensburg.

Ludwig Steinbach,5.7.2015

Die Bilder stammen von Martin Sigmund.