Regensburg: „Tristan und Isolde“

Premiere: 27.9. 2014. Besuchte Vorstellung: 1.11. 2014

Von Tristans Kopf auf Isoldes nackte Füsse

Wer am Wochenende noch die bayerische Landesausstellung besuchte, konnte kurz vor der Vorstellung in der Minoritenkirche einen Film sehen, in dem die Didaktik betreffs des Zeitalters Ludwigs des Bayern durch zwei Zeitebenen vermittelt wurde. Zum einen konnte man da den Erzähler Christoph Süß anschauen, der durch die Donaustadt läuft, zum anderen Figuren erblicken, die witzigerweise von Süß selbst gespielt wurden: Figuren in den historischen Kostümen der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts.

Am selben Abend sah der Besucher des Theaters Regensburg auf der Tristan-Bühne etwas Ähnliches. Es begegneten sich auch hier zwei Sphären: die Sphäre der sozusagen historischen Spielzeit des Stoffs, die Welt des mittelalterlichen Epos – und eine relativ moderne Welt. Man könnte auch mit Nike Wagner sagen: es begegneten sich die innere und die äußere Welt: die Welt der Erinnerungen, Träume und Visionen Tristans und Isoldes, wie wir sie aus den Erzählungen des Mittelalters und aus Richard Wagners „Handlung“ kennen – und eine relativ nüchterne Ebene, auf der Tristan und Isolde sich so begegnen, als gäbe es diese andere Welt fast gar nicht, weil sie sie oft nur, von ihrer buchstäblichen Warte aus, beobachten. Ist das ein Wunder? Da sie sich doch sowieso lieber in einer nächtlichen Traumwelt als in einer taghellen Welt befinden wollen?

Es ist bereits ein kleines Wunder, dass das Theater Regensburg den „Tristan“ szenisch realisiert. Das letzte Mal kam das Werk im schönen Haus am Bismarckplatz vor 62 Jahren auf die Bühne; ansonsten kreiste man hier in den vergangenen Jahrzehnten um die Trilogie von Holländer, Tannhäuser und Lohengrin. Zugegeben: es sind keine „Gesangsstars“, die die Hauptrollen singen, aber sie überraschen durch Klarheit und/oder Durchhaltevermögen, was bekanntlich angesichts des 3. Akts dringend nötig ist. Einhellig bejubelt wurde Dara Hobbs als Isolde – denn ihre Stimme überrascht durch Klarheit und Ausdruckskraft, Innigkeit und dramatischer Energie, ohne je ins Forcieren zu geraten.

Ihre „Liebesverklärung“ schließt den Abend musikalisch so rund ab, wie es das erstklassige Orchester unter Tetsuro Ban instrumental vorgibt. Der Klang des Ensembles ist zugleich schlank und farbig, impressionistisch dicht und von klarer Struktur, unterm Strich also ein einziges Hörvergnügen – und er engt die Sänger an den gefährlich lauten Stellen nicht nötiger ein als gewohnt; ansonsten hat der Dirigent ein Auge auf die delikaten Vortragsbezeichnungen, um den Sängern einen prachtvoll blühenden „Kothurn“ (wie Wagner gesagt hat) zur Verfügung zu stellen.

Ist auch Mikhail Gubskys Tristan ein Hörvergnügen? Er wäre es, wenn seine Artikulation sich dem Wagnerdeutsch eleganter nähern würde… Was er an Klarheit der Aussprache nicht hat, hat er an Saft: bis zu den Exzessen des Sterbeakts, in denen er eine gewaltige „Röhre“ präsentiert, die doch auch für die lyrischen Töne des zweiten Akts konstruiert wurde. Auch die Brangäne der Vera Egorova ist nicht immer verständlich, singt aber, lyrisch betrachtet, so, wie man sich eine gute Brangäne vorstellt. Mario Klein – in Bayreuth war er ein „kleiner Meister“ und in Kassel ein großer Veit Pogner – ist ein ausgewiesener Wagner-Experte, der den Marke mit ein wenig Pathos und geradlinigem, durchaus ergreifendem Ausdruck singt.

Ausdruck definiert sich bei Adam Krużels Kurwenal dagegen eher in einer Grobkörnigkeit, die die rauen Seiten des alten Recken betont. Bleiben zwei wichtige Partien des Abends: Tristan und Isolde – das Liebespaar also, das nicht singt. Die Namen müssen genannt werden, weil ohne sie die Oper nicht stattfinden würde: Michelle Völkl und Alexander Benedikt. Die Regisseurin Lotte de Beer erfand, im Wechselspiel von purem Mittelalter (einem idealen Mittelalter, wie es sich der kleine Moritz und, die Sexszene mal abgerechnet, das 19. Jahrhundert vorstellen mochten) und relativ nüchterner, fast zeitloser, weißer Kostümierung, jenes Gegen- und Miteinander von Historie und metaphysischer Sphäre.

Dies erklärt sich: in Regensburg, wo tatsächlich viele Opernfreunde das weltbekannte Werk nicht kennen, ist es tatsächlich nötig, die Geschichte bildlich zu erzählen. Wagners „Handlung“ setzt bekanntlich fast alles in die Erzählung: eine relative Zumutung für all jene, die mit den Dimensionen des Werks nicht vertraut sind. Die Regie kommt ihnen entgegen, indem sie immer wieder das ziemlich ideal aussehende Liebespaar und Figuren zeigt, die in keiner modernen Aufführung (mit Ausnahme von Stefan Herheims Berliner „Lohengrin“) auftreten dürften – als befänden wir uns, mit allen alten und sehr langen Bärten, in einem Mittelalterfilm. Die „historische“ Sphäre hat man in und vor einen (von Clement und Sanôu entworfenen) Glaskubus verbannt, in dem sie die Geschichte noch einmal spielen: der Verrat Tristans und Isoldes, die nachts aus dem Ehebett aufsteht, sich die Scham wäscht und zu Tristan eilt, um mit ihm, das wird gezeigt, im Wiegeschritt der Musik des Liebesduetts – pardon, aber man muss das so ausdrücken – zu vögeln. Nun ist aber diese Liebesgeschichte nicht allein eine Geschichte der sexuellen Leidenschaft. Wenn sich Tristan und Isolde begegnen, dann regieren die Erotik – und die Zärtlichkeit. Lotte de Beer erweist sich dort als Schülerin ihres Meisters Peter Konwitschny, wo sie innige Gesten zeigt. Tatsächlich: Tristan und Isolde dürfen sich umarmen – und küssen! Genau genommen handelt es sich hier um die schärfte Gangart eines selbstbewussten, mutigen „Regietheaters“, die möglich ist, denn diese Lesart von Wagners Oper ist denkbar weit entfernt von den skeptischen Deutungen der letzten Jahre, in denen sich die Liebenden nicht berühren, nicht anziehen, nicht ausziehen. Sie vertraut auf die Utopie der Liebe: indem sie demonstriert, dass in der Musik schon alles drinsteckt, was von den Vertretern einer negativen Theologie der Liebe geleugnet wird: Nähe, Freude, Intimität, Hingabe – und sei es eine Hingabe, die nur im Traum möglich werden kann, weil der „Krampf“ (wieder so ein Wagnerwort) zumal des langen Sterbe-Akts nur dann verständlich wird, wenn man akzeptiert, dass zwischen den Liebenden tatsächlich ein traditioneller Begriff von Liebe mitspielt. Vielleicht spielt er angesichts von Tristans seltsamen Todeswünschen nicht die Hauptrolle – aber es ist schön, dass die neben Romeo & Julia „berühmteste Liebesgeschichte des Abendlandes“ in Regensburg zunächst einmal von Tristans Kopf auf die nackten Füße Isoldes gestellt wird.

Am Ende brauchen Tristan und Isolde nicht mehr die andere, die „reale“ Ebene, in der die mittelalterlichen Helden gestorben sind und ein sehr bärtiger König zu trauern hat. Tristan lebt ja, über der Szene auf dem Kubus stehend, zusammen mit Isolde seinen Traum – dies ist die metaphysische Wirklichkeit des Liebestraums vom Traum der Liebe. Lotte de Beers Lehrer Konwitschny hat es schon, in seiner Münchner Inszenierung, gezeigt: dass die Musik des Finales keinen anderen Schluss zulässt.

Ist diese Deutung richtig? Vermutlich nicht im Sinne einer traditionellen Interpretation. Im Sinne der Musik könnte sie nicht richtiger sein. Wo sich das traumhafte Liebespaar dem Sex hingibt, darf am Ende auch die Liebe über den Tod trumphieren. Das Wichtigste ist schließlich die Musik. Sie hat in Regensburg, alles in Allem, sehr gute Interpreten gefunden.

Frank Piontek, 3.11. 2014

Bilder: Jochen Quast / Theater Regensburg