St. Pölten: „Giselle“, abstrakt moderne Version

Ein Werk über vielfältige Gewalt. Das Prekariat und dessen Profiteure, die Globalisierung und deren Nutznießer, das Wohlstandsgefälle und dessen Auswirkungen. Wanderarbeiterinnen, erst billige Arbeitskräfte in einer Textilfabrik, nach deren Schließung Tanzpuppen für die reichen Fabrikbesitzer. Aus dem mittelalterlichen Zentraleuropa verlegt Akram Khan seine „Giselle“ an einen unbekannten, der Auslagerung von massenhafter (nicht nur) Textilproduktion westlicher Konzerne nach Pakistan und Bangladesch gleich dennoch sehr konkreten Ort, an dem Geflüchtete und Migrierte, die auf der Suche nach Verdienstmöglichkeiten auflebenden Industriestandorten hinterher ziehen und nach deren Stilllegung stranden, auf deren Ausbeuter treffen. Die aber leben hinter einer gewaltigen Mauer.

(c) Laurent Liotardo

Inspiriert durch die Wilis, weibliche Naturgeister der slawischen Mythologie, die in der 1835 geschriebenen Sage von Heinrich Heine vor ihrer Hochzeit starben und fortan nachts ihren Gräbern entsteigen, um junge Männer zu Tode zu tanzen, entstanden Libretto und Musik des 1841 in seiner Original-Version in Paris uraufgeführten frühromantischen Ballettes „Giselle“. Das Heutige findet der Großmeister des zeitgenössischen Tanztheaters Akram Khan in seinem Interesse für Mythen und deren Aktualität nicht nur in Giselles Geschichte von Liebe, Täuschung und Verrat, sondern vor allem in den sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen der AkteurInnen. Khans auch inhaltliche Adaption legt Finger in ferne Wunden. Und weist Wege in die Zukunft.

2016 für das auch hier tanzende English National Ballet choreografiert und seitdem weltweit gezeigt, erlebte Akram Khans „Giselle“ nun im Festspielhaus St. Pölten seine Österreich-Premiere. An zwei ausverkauften Abenden packte das Stück sein Publikum schon in den ersten Sekunden. Ganz wesentlich dafür ist die Musik. Die Komposition und das Sounddesign stammen von Vincenzo Lamagna, der die Originalmusik von Adolphe Adam benutzt, um mit ungemein wirkmächtigen perkussiven Elementen, elektronischen Ergänzungen und Verfremdungen eine Klanglandschaft zu erschaffen, die in ihrer Wucht und Eindringlichkeit entscheidend zur emotionalen Wirkung des Werkes beiträgt.

(c) Laurent Liotardo

Das Licht von Mark Henderson gestaltet den Raum mit Schatten und Farben, Flächen und Spots, ohne eine der vielen Quellen sichtbar werden zu lassen. Das Bühnenbild des Oscar-prämierten Tim Yip (Visual Design und Kostüme) besteht aus einer verschieb- und um ihre horizontale Achse drehbaren hohen grauen Mauer. An der Außenwand zeugen Abdrücke von unzähligen Händen vom Widerstand gegen sie und von vielen vergeblichen Versuchen, sie zu überwinden respektive zu durchbrechen. Sie wird zum Symbol für die Schichtung der Gesellschaft in Klassen, für die Abschottung der reicheren Teile dieser Welt, vor allem Europas, gegen die in fernen Ländern von uns ausgebeuteten Menschen, vor allem Frauen, die, wenn dann ihre Perspektivlosigkeit sie in die Migration und schließlich vor unsere Tore zwingt, als Wirtschaftsflüchtlinge diffamiert werden.

Die Original-Geschichte der „Giselle“, die sich in den Adeligen Albrecht verliebt, der sie bezüglich seiner Verlobung mit Bathilde täuscht und Giselle schließlich verrät, die daraufhin dem Wahnsinn verfällt und stirbt, von den Wilis aufgenommen wird, die Albrecht töten wollen, der aber durch Giselle geschützt wird, die ihm vergibt, endet in drei Versionen, die das Schicksal Albrechts verschieden beschreiben. Eine vierte kreiert Akram Khan.

Aus einer romantischen Liebesgeschichte wird in seiner „Giselle“ ein gesellschafts- und geopolitisches Drama. Khans Giselle ist keine naiven Mädchen Geschichte. Sie tritt den Mächtigen, insbesondere Bathilde, der Verlobten Albrechts, in deren Kleid sie ihre eigene Handarbeit wiedererkennt, stolz und kämpferisch gegenüber. Eine Schlüsselszene dafür ist der von dieser provokativ fallen gelassene Handschuh mit der impliziten Aufforderung an Giselle, ihn aufzuheben. Doch sie beugt sich nicht und lässt sich auch von Albrecht nicht beugen.

(c) Laurent Liotardo

Die Mauer dreht sich um ihre horizontale Achse. Sie öffnet sich von unten her nach vorn. Gleißendes Licht strahlt aus der Welt dahinter in die Dunkelheit davor. Im Licht werden Silhouetten skurril gekleideter Menschen sichtbar, die wie Aliens langsam die unbekannte, fremde Welt da draußen betreten. Das Bild erinnert an die Landung Außerirdischer in Science-Fiction-Filmen. Die aufwändigen Kostüme der FabrikbesitzerInnen sind ausladend, prahlerisch und protzend. Sie stellen dem Prekariat der Unterschicht die Dekadenz der ökonomisch und politisch Mächtigen gegenüber. Am Ende des ersten der zwei Akte, nachdem sie Albrechts Betrug gewahr wurde, stirbt Giselle nach heftigem Aufruhr vor der vom Licht blutrot gefärbten Mauer zu Füßen des Fabrikbesitzers und seiner zwei Lakaien. Nicht an Wahnsinn und gebrochenem Herzen, sondern von diesen getötet.

Der zweite Akt, nach der Fabrikbesitzer-Szene, in der Albrecht verzweifelt klagt und die ungerührten Seinen für den Tod Giselles verantwortlich macht und die daraufhin allesamt die Szenerie verlassen, gehört den Wilis. Sie sind die Geister der in (auch eingestürzten) Textilfabriken umgekommenen Arbeiterinnen. Mit ihren schmuddeligen Seidenkleidern und zerzausten offenen Haaren scheinen sie gerade der Erde ihrer eigenen Gräber entstiegen. Ihr Rachedurst scheint verständlich. Dennoch repräsentieren sie den rückwärtsgewandten, revanchistischen Geist, der Individuen, Gruppen, Gesellschaften und Staaten vergiftet. Die resultierende Bereitschaft zu Gewalt und deren empfundene Alternativlosigkeit tanzt die Gemeinschaft der Wilis alte Traditionen pflegend auf Spitze und angestachelt von ihrer Anführerin Myrtha. Sie tragen die Stäbe wie Messer zwischen den Zähnen und benutzen sie als todbringende Stichwaffe. Die eingeflochtene synchrone Verwendung der Stangen als Arbeitsgeräte zeigt die Macht der Masse, ja deren revolutionäre Kraft. Ihr aller Stampfen mit den Stäben klingt wie eine Selbstermächtigung.

(c) Laurent Liotardo

Hilarion, in seiner unerwiderten Liebe zu Giselle Albrechts Konkurrent, ist der Oberschicht verbunden durch mancherlei Geschäftchen. Die Wilis tanzen ihn zu Tode. Myrtha will auch Albrecht töten, Giselle jedoch hindert sie daran und vergibt ihm. Khan setzt damit ein starkes Zeichen für das Durchbrechen des Kreislaufs der Gewalt. Und somit für ein Werkzeug, das die Welt aus ihren in der Historie wurzelnden und beständig als Rechtfertigung für neuerliche Gewalt dienenden ungelösten Konflikten herausführen kann. Vergebung ermöglicht Neubeginn, wendet den Blick ab von der Vergangenheit, die fortzuschreiben und zu leben Zukunft unmöglich macht.

Das English National Ballet agiert auf Weltklasse-Niveau. Die Choreografie verbindet klassischen und zeitgenössischen Tanz mit indischem Kathak. Die Wucht von Bild und Klang überwältigt, wie die Kraft der Massen-Szenen. Herzzerreißend schön in den Duetten, donnernd in Kampf und Gewalt, hinreißend in Liebe und Zärtlichkeit, Hingabe und Aufopferung, Macht und Ohnmacht ist der Tanz. Klassenkampf auf großer Bühne. Herausragend aus diesem großartigen Ensemble, natürlich, die SolistInnen (an beiden Abenden unterschiedlich besetzt, am zweiten wie folgt:) Fernanda Oliveira (Giselle), Aitor Arrieta (Albrecht), Erik Woolhouse (Hilarion) und Isabelle Brouwers (Myrtha).

Die „Giselle“ des Akram Khan, immer münden seine Stücke in Arbeiten, die von seiner tief empfundenen Dringlichkeit erzählen, baut Brücken zwischen Romantik und brutaler sozio-ökonomischer, gesellschaftlicher und globalisierter Gegenwart. Das Werk arbeitet auf drei Ebenen. Der individuellen, psychologisch-emotionalen, der Gruppen- und gesellschaftlichen mit ihren sozialen, ökonomischen und hierarchischen Strukturen und Verwerfungen sowie der metaphorisch-spirituellen, auf der Khan die Handelnden und die Handlung versinnbildlicht und in eine bessere Zukunft weisende, heilende Visionen formuliert.

Myrtha und Giselle, die beiden Antagonisten Rache und Vergebung, die Akram Khan als Handlungsalternativen auf die (Welt-) Bühne stellt, umkreisen einander. Zwischen sich, distanzierend und verbindend zugleich auf ihre Weichteile gesetzt, ihr Arbeitsgerät, die Stange, Verderbnis bringend und an ihre Kraft und ihren Stolz gemahnend. Sie verschwinden im Dunkel. Verdrängt in das individuelle und gesellschaftliche Unbewusste, aus dem heraus sie als Impulse sich ins Handeln drängen. Albrecht, am Ende allein vor der Mauer, von den Mächtigen ausgestoßen und den Unterdrückten isoliert, als zwischen allen und allem Stehender, repräsentiert die Stunde null, die Not-Wendigkeit des Hinterfragens aller Werte, Ordnungen und Ziele. Und den schmerzvollen, aber unabwendbaren Neubeginn.

Lang anhaltender Beifall für eine herausragende Kompanie, den großen Geschichtenerzähler Akram Khan in dessen Abwesenheit und ein bewegendes Meisterwerk.

Rando Hannemann, 5. März 2023

Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online (Wien)


Giselle

25. Februar 2023 im Festspielhaus St. Pölten

Choreografie und Regie: Vincenzo Lamagna

Sounddesign: Vincenzo Lamagna

Licht von Mark Henderson

Bühnenbild Tim Yip

English National Ballet