Nürnberg: „Goldberg“, Ballett von Goyo Montero

Abstrakt? Ein abstraktes Ballett. Kann ein (Tanz-)Theater zumal von Goyo Montero, der sich so gut auf die Menschendarstellung versteht, „abstrakt“, also nur dem Verstand oder in der Einbildungskraft zugänglich sein? Natürlich kann ein Theater nicht abstrakt sein – aber die neue Produktion des Nürnberger Compagniedirektors ist sicher das Abstrakteste, das er je für Nürnberg geschaffen hat. Ist es gleichzeitig auch hermetisch, verschlossen, im intekllektuellen Sinne unverständlich? Gewiss – doch zugleich ist es das vielleicht Leichteste, was Montero für die Nürnberger Bühne kreiert hat. Dabei handelt es sich um einen hochvirtuosen Abend, ja: geradezu um ein Kompendium all dessen, was wir von Montero an einzelnen Figuren und Motiven in den letzten Jahren gesehen haben. Wir schauen auf einen Abend, den man leicht zur l‘art pour l‘art schlagen könnte – und der doch all das zu verbürgen scheint, was Monteros Kunst und die der Tänzer auszuzeichnen pflegt.

(c) Jesús Vallinas

Der Fall klingt verwirrend, aber er ist einfach: denn es geht nicht um eine Geschichte, nicht einmal um ein wirkliches, konkretes Thema, das mit „Goldberg“ auf die Bühne gebracht wurde. Es geht einfach nur um – den Traum. Montero, seit je fasziniert von Bachs Musik, hat sich schon mehrmals choreographisch mit Bach auseinandergesetzt. Unvergesslich der „Monade“-Abend, an dem die Sänger des Staatsopernchors zusammen mit den Tänzern auf der Bühne standen und agierten. Dass „Goldberg“ nun nicht wie eine durchlaufende Geschichte, sondern wie eine Revue allerhöchsten technischen Anspruchs wirkt, ist der Struktur des Werks verpflichtet, das Montero zur Grundlage seiner Choreographie benutzte. Die Goldberg-Variationen, erstmals gedruckt in Nürnberg, spiegeln sich in den 30 Variationen, den beiden Arias und der finalen Aria, die in knapp 80 Minuten in 33 sauber voneinander getrennten Teilen vor uns getanzt werden. Monteros Hauskomponist Owen Belton hat eigene Variationen eingelegt, die die Auswahl der Bach-Stücke unterbrechen, begleiten, konterkarieren, kontrapunktierten und bestätigen. Für den Musikfreund, der Neuschöpfungen der Bach-Musik liebt (kein Komponist des Abendlandes dürfte so oft instrumentiert und so wunderbar neubearbeitet worden sein wie der universelle Bach), lohnt sich „Goldberg“ schon deshalb, weil er mit hinreissend verfremdeten Klängen, auch Vokaleinlagen, als wär‘s ein Stück der King‘s Singers, konfrontiert wird, die aus dem Orchestergraben und vom Band und zusammen ertönen: bis hin zum versöhnlich strömenden Finale, in  dem Owen Belton seine letzte Interpretation der Aria, also der Grundmelodie, fixiert hat. 30 Variationen, die im Programmheft 30mal „Varatio“ betitelt werden, worin sich die Veränderung und die Vernunft reizvoll kreuzen, sind die musikalische Basis, die die Komponisten aus dem Thema gewannen: das Thema aber heisst „Traum“. Und so, wie Bach seine Musik aus rational-konstruktiven Erwägungen und emotionalen Zielen zu dem machte, was sie heute noch ist: inkommensurabel, so überschwemmt uns die Compagnie mit einem doppelten Prolog (das Eintauchen in den Schlaf und die Traumphasen andeutend), 30 einzelnen Bildern und einem Epilog. Da sitzen dann die 24 Tänzer im warmen Licht eines imaginären Lagerfeuers und beginnen so zu brummen wie einst Glenn Gould (die auditive Grundlage der Einstudierung) und – die Frauen – zu singen, bis die bekannte Aria vokal vollgültig gebildet ist. Der Rest ist Schweigen und ein Stehen in einem tagenden Licht.

Zwischen dem ersten und dem letzten Takt sehen wir auf Soli, Pas de 2, de 3, de 4, de 5…, wir werden mit Monteros Hebe- und Schleiffiguren, dem Motiv „Der Einzelne und das Kollektiv“, die Agression und die zarte Nähe, mit Bodenarbeit, zitternden Gliedmaßen und gleitenden Körpern konfrontiert. Wie gesagt: wir sitzen in einem Abend, der das Monterosche Lehrbuch zumindest technisch vor uns ausbreitet. Man kann ihn, hat man nach einer guten Viertelstunde begriffen, dass es im Traum recht eigentlich nichts Haltbares zu verstehen gibt, quasi interesselos geniessen. Montero hat in einem langen, im Programmheft dokumentierten Gespräch seine intensive Beschäftigung mit dem so reichen wie rätselhaften Traum-Thema bekundet – aber der Zuschauer muss das alles nicht wissen. Zweifellos benötigte Montero die Traum-Theorie und-Forschung, um zu seinen spezifischen Bildfindungen zu kommen, mit denen er die (nur angeblich) zur Nachtbegleitung komponierten, also schon ihrerseits mythischen Goldbergvariationen einem Strang unterwarf. Es ist ehrenhaft und charakteristisch für diesen großen ernsthaften Künstler, der sich als Choreograph allein so um die ernsthafte Kunst des Johann Sebastian Bach kümmern konnte – aber es ist völlig unwichtig, ob wir um die REM-Phasen, luzide Träume, Alb- oder Wunschträume wissen. „Goldberg“ erzählt uns nur das Offensichtliche, das ohne jegliche Bedeutungshuberei als das genommen werden kann, was es ist: hochästhetisches, im besten künstlerischen Sinne bedeutungsloses, also unideologisches, „abstraktes“ Tanztheater.

(c) Jesús Vallinas

Eine in diesem Sinne perfekteres Tanztheater hat Montero nicht für Nürnberg gezaubert. Ein letzten Endes sinnloseres auch nicht. Wenn Montero auf die Rolle des (traumhaften) „Doppelgängers“ verweist, sehen wir nur selten authentische Doubles. Ein Doppelgängertum aber setzt zumindest völlige äußere Identität voraus, die am Abend nur einmal fast gegeben ist; wenn sich zwei weibliche Tänzer in einen Pas de deux begeben, der alles und nichts bedeuten kann, obwohl die Kraft, mit der die beiden Tänzerinnen, wie üblich bei Montero, sich in den Zwei-Tanz begeben, an körperlicher Intensität nichts zu wünschen übrig lässt. Was bleibt, ist ein neues Bild wie jenes, in dem ein Mann-Frau-Paar zunächst ohne musikalische Begleitung als Silhouette agiert, bevor zur beginnenden Musik langsam das Licht wieder aufscheint. Was bleibt, ist ein Compagnietanz in starkem Violett-Schimmer, sind, mehr noch als die leibchenhaften anderen Outfits, die oszillierenden, mit „Quecksilber“-Schlieren versehenen Kostüme Salvator Mateu Andujars, die im zweiten Teil der Nacht in Einsatz kommen: auf einen elastischen Lycra-Stoff wurden Schwarzweiß-Fotografien der Tänzer und Tänzerinnen ähnlich einem Negativ gedruckt. „Der Effekt“, so Montero, „ist, dass das menschliche Auge etwas zwischen flüssigem und festem Material wahrnimmt“; die Diffusion des Schlaf/Traumzustands findet ihre Entsprechung noch in den Kostümen und im Licht Martin Gebhardts, nicht zuletzt in den Kompositionen und Instrumentationen Owen Beltons, in denen sich Analoges mit Digitalem aus dem Synthesizer mischt, das bisweilen an Akkordeonklänge, bisweilen an Störgeräusche erinnert. Am Pult der Nürnberger Staatsphilharmonie steht Christian Reuter; er leitet das Orchester, in dem der Pianist Daniel Rudolph die originalen Bach und Belton zur Gemüts-Ergetzung der lauschenden Cavaliere und Frauenzimmer exekutiert. Das alles klingt und sieht spannend aus, das Schnarchen dringt nicht aus dem Parkett, sondern aus den Lautsprechern. Nur einmal wird es richtig tumultuös, die Tänzer schreien wieder einmal wild durcheinander, Nein, Montero müsste nicht dieses inzwischen abgenutzte Stilmittel einsetzen. Es ginge an diesem Abend auch ohne, aber wenn man die Reihe der 33 Einzelteile einmal begriffen hat, versteht man, dass auch dieses akustische Motiv zu Monteros höchstpersönlichem Kompendium gehört. Nein, eine Erzählung haben wir am Abend nicht gesehen, aber eine Reihe von Begenungs-Szenen und choreographischen Episoden, von Montero-Themen und ihren Variationen. Das ist viel, sehr viel – aber für Montero, alles in allem, ein wenig zu wenig, um zumindest den Rezensenten so ergriffen zu haben wie noch jede andere der vielen Nürnberger Arbeiten des Meisterchoreographen und seiner fantastischen Compagnie.

Frank Piontek, 30.1. 2023


Goldberg

Goyo Montero / J.S. Bach / Owen Belton

Staatstheater Nürnberg

Premiere: 17. Dezember 2022

Musikalische Leitung: Christian Reuter

Staatsphilharmonie Nürnberg

Choreographie: Goyo Montero

Staatstheater Nürnberg Ballett