Vorstellung am 21.07.2019
Opernfestspiele 2019
Um es ganz kurz zu machen: Ein Opernabend der Superlative. Da stimmte einfach alles, die Besetzung, die Inszenierung, die Kongruenz zwischen Musik, Text und historischer Einordnung. Philipp Stölzl ist mit diesem CHÉNIER (Premiere war 2017) eine atemberaubende Regiearbeit gelungen. Mit beinahe unfassbarer Präzision arbeitet er die historische Atmosphäre der französischen Revolution heraus, setzt Parallelhandlungen in Gang ohne in ein Gewusel zu verfallen, richtet den Fokus auf die Protagonisten, ohne die Nebenschauplätze zu vernachlässigen, präsentiert innerhalb der vier Bilder ein Panoptikum der Zeit, verzichtet auf aufgesetzte Aktualisierungen und schafft so das heutzutage auf der Opernbühne eher selten anzutreffende Wunder einer stimmigen Einheit zwischen Partitur und Libretto. Heike Vollmer und der Regisseur haben hierzu eine aufwändige Bühne konstruiert, welche durch den Aufriss von Häusern einen Querschnitt durch die Zeit und zugleich einen Einblick in die Figuren und ihre Handlungsmotivationen gibt. Bereits im ersten Bild, das im Haus der Gräfin nochmals die politische Unbedarftheit des sich an Schäferspielen und Gavotten ergötzenden Adels zeigt, während im Untergrund das Personal wie Sklaven emsig seine Arbeit für die „Oberen“ verrichten muss, überzeugt. Man sieht dann, wie es von unten her zu brodeln beginnt, die Revolution unter Anführung des Kammerdieners Gérard nach oben durchbricht, den Adel vertreibt und die Gräfin irre lachend zurückbleibt und weiter versucht, die Gavotte zu tanzen, obwohl ihre adeligen Freunde bereits das Weite gesucht haben. Später ist es dann umgekehrt: Die ehemals Mächtigen sind unten eingekerkert, oben frisst die Revolution ihre eigenen Kinder. Stölzl entwickelt Nebenfiguren weiter (z.B. den Abate aus dem ersten Bild, welcher dann im zweiten vom Mob gelyncht wird), lässt den Sansculotte Mathieu den Zuschauer durch die vier Bilder der Revolution führen. Der Aufwand an Bühnenbild, Kostümen (entworfen von Anke Winckler), Lichteffekten (Michael Bauer hat die komplexe Einrichtung für die verschiedenen Plätze und Kammern besorgt)) und Requisiten ist unglaublich und zeigt exemplarisch, dass grosse historische Oper auf der Bühne also doch möglich ist – und dies alles ohne verstaubt zu wirken. Schlicht überwältigend.
So auch die Besetzung. Unter der die musikalischen Effekte zu Recht nicht scheuenden, umsichtigen Leitung von Asher Fisch spielt das Bayerische Staatsorchester Giordanos Partitur mit Feuer und Innigkeit. Stefano La Colla in der Titelpartie besitzt eine der zur Zeit wohl schönsten und strahlendsten Stimmen für das italienische Repertoire des späten 19. Jahrhunderts, von Ponchielli über die Veristen zu Puccini. Mit wunderschön kontrollierter Emphase wirft er sich in die Romanze Un dì all’azurro spazio. Das Publikum war so begeistert, dass es nach einem besonders schön gelungen hohen Ton (leider) viel zu früh in einen Begeisterungssturm ausbrach. Ganz toll gestaltet ist auch seine Verteidigungsrede vor dem Tribunal Fui soldato. Mit stimmiger Verhaltenheit geht er seine im Kerker intonierte Szene Come un bel dì di maggio an, kein tenorales Protzen und doch mit subtiler Dynamik auf den Kulminationspunkt zusteuernd. Traumhaft schön auch seine beiden Duette mit Maddalena: Das Ora soave im zweiten und das Vicino a te im vierten Bild. Die Maddalena von Anja Harteros ist ebenfalls eine Traumbesetzung: Wunderbar leicht und mädchenhaft unbedarft singt sie die adelige Tochter im ersten Bild, gereift nach den schrecklichen Erfahrungen klingt sie in den Bildern zwei bis vier. Orakanartige Begeisterungsstürme erntet sie nach ihrer grossen Arie La mamma morta im dritten Bild, wo sie dem zu einem der Führer der Revolution aufgestiegenen ehemaligen Kammerdiener Gérard ihren Leidensweg schildert und diesen so davon abbringt, sie zu vergewaltigen. Die so wunderbar warm, mit bewegender Rundung geführte Stimme von Kammersängerin Anja Harteros bebt vor Innigkeit und Ausdruckskraft, ohne die Linie zu verlassen. Fantastisch! Želiko Lučićist als Gérard mit seinem sonoren, Bariton ebenfalls überaus gut besetzt. Dies ist ja die einzige der Hauptfiguren, welche eine wirkliche Wandlung und Entwicklung durchmacht. Während Chénier eigentlich innerlich emigriert und die quasi immer noch sich in naive Traumwelten flüchtende Maddalena in die Apotheose des Liebestodes mit hineinzieht, wandelt sich Gérard vom die Gerechtigkeit Suchenden und dann seine neue Macht für persönliche Ziele (die erotische Eroberung Maddalenas) ausnutzend zum geläuterten und vom Terror Robespierres abgestossenen Humanisten. Lučić verkörpert diese Wandlung ergreifend, singt seine dankbaren grossen Solo-Szenen Son sessant’anni … T’odio casa dorata und Nemico della patria mit raumgreifender Fülle und gestalterischer Durchdringung.
Rachael Wilson gestaltet im ersten Bild eine verschmitze Bersi, schubst Maddalena durchtrieben zu Chénier hin. Im zweiten Bild dann sieht man, wie sie sich als Prostituierte für Maddalena aufopfert. Dabei gerät sie mit ihren sexuellen Diensten an den Spion der Revolution, den Incroyable, der von Kevin Conners mit eindringlicher Schärfe gesungen wird. Als Maddalenas Mutter, die Gräfin von Coigny, überzeugt Helena Zubanovich, ihr bereits erwähntes irres Lachen am Ende des ersten Bildes vergisst man so schnell nicht wieder (vor allem auch, weil Stölzl sie nochmals vom Mob ermordet auf dem Sofa zeigt, wenn Maddalena im dritten Bild dem Gérard von ihrem Schicksal berichtet). Boris Prýgl gibt einen warmstimmigen, um Chénier anrührend besorgten Freund Roucher, Matti Olivieri grölt und lallt als Sansculotte zu Beginn gekonnt die Marseillaise und ruft damit quasi die bösen Geister der Revolution. In weiteren Rollen erlebt man Krešimir Stražanac (als eleganten Fléville), Christian Rieger (als unbarmherziger Ankläger Fouquier-Tinville), Ulrich Reß (Abate), Callum Thorpe (Haushofmeister und Schmidt) und Alexander Milev (Dumas).
Doch den rührendsten und beeindruckendsten Auftritt hat Elena Zilio als alte Madelon, die der Revolution den einzig ihr verbliebenen Angehörigen schenkt – ihren Enkel. Ihr Prendetelo geht dermassen unter die Haut, dass man vor Rührung geschüttelt wird.
Ein mehr als festspielwürdiger Opernabend – stimmig und bewegend vom ersten Takt an bis zum Fallen des Beils der Guillotine.
Kaspar Sannemann 24.7.2019
(c) Wilfried Hösel