Bayreuth: Der Castorf-„Ring des Nibelungen“

Große Ideologie, k(l)eine Wirkung

Ein in sich geschlossener Ring scheint aus diesem "Ring des Nibelungen" bis
zuletzt nicht werden zu wollen. Frank Castof, der sich 2017 zum fünften und
letzten Mal an Wagners gewaltigem Epos` versucht, scheint alle Teile der
Tetralogie unverändert separat zu setzen, so, als wären es Geschwister, die
nichts voneinander wissen. Nach wie vor fehlt seiner Inszenierung der Bogen,
welcher die Einzelteile zu einem großen Ganzen verbindet.

Für sich selbst genommen, bieten die Abende dieses "Rings" allerdings genügend
Raum, um sich mit der teils grotesken Vision des 66jährigen, sogenannten
"Bühnen-Zertrümmerers" zu versöhnen. Oder ist es nur die Macht der
Gewohnheit, welche bewirkt, dass das Publikum in Bayreuth sowohl "Rheingold",
die "Walküre" als auch "Siegfried" und die "Götterdämmerung" inzwischen mit
mehr als nur gnädigem Applaus quittiert?

Katharina Wagner (39), seit zwei Jahren die alleinige Chefin auf dem "Hügel",
zieht jedenfalls eine positive Bilanz. Schließlich ist sie mit verantwortlich dafür,
dass der seit langem als szenischer Rabauke bekannte Regisseur nach
Oberfranken berufen worden ist. "Frank Castorf wurde engagiert, weil er eine
ganz eigene Ästhetik hat und weil er in Bayreuth eine völlig neue Sichtweise auf
das Stück bringen sollte. Und das hat er wirklich getan." Die (oberflächliche)
Versöhnung mit dem Castorp`schein Bühnen-Krawall ist mittlerweile in der Tat da,
und sie scheint einigermaßen vollständig. Schließlich gibt es neben dem
gelegentlichen Durcheinander in seinen Regie-Ideen auch ein paar Punkte, die
geeignet sind, den traditionellen Wagner-Fan mit der aktuellen Inszenierung zu
versöhnen.

So gewinnt die Darbietung zweifelsohne durch das von "denen da oben"
scheinbar unbeeindruckte Dirigat des Marek Janowski. Nach drei Jahren Castorp
mit dem ebenfalls in den Kritiken gerühmten Kirill Petrenko hatte dieser 2016 die
Herrschaft über die Festspielmusiker übernommen: Ein betont bescheidener,
feine Nuancen mit Liebe aus den Instrumenten lockender, mittlerweile fast
80jähriger Herr. Janowski schätzt die runden Töne und bemüht sich mit Erfolg,
dem Ohr des geneigt Lauschenden vollendet-ätherische Impressionen zu
bescheren. Wo das Bühnenbild oben allzu unruhig oder unlogisch erscheint,
umwehen den Zuhörer wie als Entschädigung diese ruhigen bis leidenschaftlichen
Klänge quasi von unten. So mancher Hardcore-Wagnerianer im Publikum schließt
zwischendurch die Augen, um sich – unbeeindruckt vom visuellen Geschehen –
ganz dem fließenden Wohlklang aus dem Orchestergraben hinzugeben.

Damit nicht genug, serviert man im Festspielhaus auch sonst einige
zurückgenommenen Elemente. Wenn man sich etwa die diesjährige "Walküre"
ansieht, so gewinnt man den Eindruck, in einem klassisch-konservativen
Opernhaus gelandet zu sein – keine verrückten Details, wie sie vor allem im
sogenannten "Vorabend", also der "Götterdämmerung" oder Castorps "Siegfried"
auftauchen. Keine überdimensionalen, ideologisch quer gedachten Bühnenbilder.
Stattdessen ein einfacher Bretterbau, in und um den herum sich die bekannten
Figuren tummeln. Da sich an den Zutaten im Castrof`schen Wagner-Kompott über
die Jahre hinweg kaum etwas geändert hat – nur die Krokodil-Familie im
"Siegfried" wuchs von Jahr zu Jahr und die Zahl der Entchen im "Rheingold"
variierte – trug auch dies zur Versöhnung (oder schlicht zur Gewöhnung?) bei.
Dennoch stellt sich nach wie vor die Frage, ob sich die Kapitalismus-Kritik dieser
Inszenierung nicht bereits vor Jahrzehnten überlebt hat. Frank Castorf wie sein
Bühnenbildner Aleksandar Denic fahndeten gemäß eigenem Bekenntnis für ihre
Interpretation nach einem modernen Schmiermittel der Macht, das Wagners
sagenhaftem Nibelungengold ebenbürtig sein könnte. Dabei stießen sie auf Erdöl.
Denic begab sich kurzerhand auf eine "Reise durch die Zeit, durch die Geografie,
durch die Politik- und Sozialgeschichte". Und so avanciert die Szenerie in
"Rheingold" seit fünf Jahren zu einer Tankstelle an der Route 66. Tankstelle,
Erdöl, moralisch miserable Kapitalisten – alles offeriert als Gleichnis für den bösen,
gewinnsüchtigen Westen. In dem der Sex in brutaler Weise gegen Bares eingelöst
und öffentlich offeriert wird wie im "Siegfried". Und das Menschliche-
Allzumenschliche willig dem Kapital geopfert wird.

Trotz der bereits erwähnten, angenehm schlichten Präsentation bleibt auch
Castorfs "Walküre" ein Tummelfeld politischer Konzepte. Wotan, Fricka,
Brünnhilde und Hunding spielen sich ihre Einsätze nach wie vor auf einem Ölfeld
in Baku/Aserbeidschan gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu. Flankiert von
riesigen, sozialistischen, auf das Holz gepinselten Propaganda-Sätzen à la "38
Mio. Tonnen Gasöl im neuen Jahr". Als weitere Garnitur sieht man historische
Schnipsel von in Öl glänzenden, heroisch gut-gelaunten Arbeitern, Ex-
Volksheld Stalin oder auch Artikel der "Prawda". Am Schluss der "Walküre", als
ein roter Stern am Bohrturm erglüht, geht Wotan seines Großgrundbesitzer-Barts
verloren und mutiert zum kommunistischen Funktionär. Dass auch hier die
Absage an den Kapitalismus nicht vollständig ist, zeigt sein Griff zur Flasche:
Wotan säuft Wodka. Alle weltanschaulichen Systeme haben ihre Tücken, lautet
die Botschaft – welche wohl verhindern soll, dass Castorfs Präsentation der
Geschichte als ausgelutscht und eindimensional wahrgenommen wird.
Doch will man einen derartigen Clash ehemaliger politischer Systeme heutzutage
noch sehen? Die abgenucklte Denkweise, welche hinter all dem steckt, verlockt
im Grunde längst doch nur noch zum Gähnen. Gut, dass das hölzerne Gestühl im
Zuschauerraum so hart ist, dass es – gemäß dem Wunsch Wagners – dem
Schlummer entgegen wirkt.

Was das da auf der Bühne alles soll, fragt sich im Jahre fünf dieser Inszensierung
aber vielleicht auch schon keiner mehr. Vielmehr scheint man im Opernhaus von
Bayreuth gelernt zu haben, den ideologischen Kram beiseite zu lassen. Und sich
über die gesangliche Würze zu freuen, die einem von ganz vorne entgegenfließt.
Über eine Stimmesleistung, die in den meisten aller Fälle an diesen vier Abenden
überwältigend ist, und für die der Hügel zu Recht hohes Ansehen genießt. Dabei
überzeugten vor allem die Darsteller der "Walküre". So zum Beispiel die vielfach
gerühmte Brünhilde-Sängerin, Catherine Foster, welche ihrer Stimmgewalt
bisweilen bewusst Zügel anzulegen schien. Oder der auch schauspielerisch
überzeugende John Lundgren als Wotan, dessen Bühnenpräsenz vom Publikum
in Bayreuth besonders honoriert wurde.

Milde herrscht nun auch gegenüber der Regie. Und das trotz des Gewackels
zwischen zwangsweise herbeizitierter Historie, politischen Schubladen von
vorgestern und müder Kritik an diesem und jenem System. Als Frank Castorf nach
dem letzten Akt der "Götterdämmerung" vor den herunterwallenden Vorhang tritt,
erwartet ihn kein 15-minütiges Buhkonzert, wie noch 2013. Statt dessen taucht
der 66-Jährige in ein überaus angenehmes, nicht enden wollendes Klatsch-Bad
von 15-minütiger Länge. Ein wenig so, als wolle man die Schmähungen von vor
fünf Jahren nun doch noch zurücknehmen. Und so schließt sich zumindest auf
diese Weise eine Art Ring – wenn auch die vier Abende der Castorp`schen
Darbietung nach wie vor keine inhaltliche Einheit annehmen wollen. Wie es
weitergehen soll in Sachen "Ring", will Festspielleiterin Katharina Wagner erst
2019 offenbaren. Schließlich ist ein bisschen Geheimnis immer gut fürs Geschäft.

Daniela Egert 10.8.2017