Frankfurt: „Paul Bunyan“, Benjamin Britten

Premiere am 9. Oktober 2016

Exil-Briten auf dem Broadway

„Amerika, das ist die Entwicklung von der Barbarei zur Dekadenz ohne Umweg über die Kultur.“ An diesen giftigen Satz von Clemenceau muß der Dichter W. H. Auden gedacht haben, als er das Libretto zu „Paul Bunyan“ schrieb. Er nahm sich darin eines Mythos an, der amerikatypisch aus einer Holzfällersage durch die Werbeindustrie zum verkaufsfördernden Maskottchen geformt wurde und in den USA große Popularität genießt. Im Grunde handelt es sich um eine amerikanische Schöpfungsgeschichte: Der riesenhafte Holzfäller Paul Bunyan zieht mit seinem blauen (!) Ochsen Babe durch das noch unbesiedelte Nordamerika, rodet die Wälder, läßt seine Axt hinter sich herschleifen, wodurch eine gewaltige Furche entsteht, die man später „Grand Canyon“ nennen wird. Indianische Ureinwohner kommen natürlich nicht vor. Als Gehilfen sammelt Bunyan hergelaufene Holzfäller um sich. Als das Rodungswerk schließlich getan ist, hält er sie dazu an, als Farmer seßhaft zu werden. Er selbst zieht davon.

Ensemble (Holzfäller)

So schlicht können Mythen sein. Und das soll ein abendfüllendes Musiktheaterstück ergeben? Natürlich nicht. Die banale Geschichte ist schnell erzählt. Das unternimmt bei Auden in der Vertonung von Benjamin Britten ein Countrysänger. Sich selbst auf der Gitarre begleitend (in der Frankfurter Aufführung sehr authentisch: Biber Herrmann) handelt der Erzähler die Sage im Balladenton mit leiernden Melodiemustern routiniert ab. Drumherum hat Auden Szenen aus dem Alltag der Holzfäller gruppiert, die insbesondere mit der Eintönigkeit der Mahlzeiten nicht zurechtkommen (täglich Bohnen und Suppe). Paul Bunyans Tochter darf sich in den Koch verlieben, so daß es auch Gelegenheit zu einem schmalzigen Liebesduett gibt. Ein besonders einfältiger Holzfäller legt sich mit dem Riesen an und wird von ihm fürchterlich verprügelt. Als Kontrastfigur stellt Auden der Horde von Waldarbeitern einen Intellektuellen gegenüber, den Bunyan als „Buchhalter“ einstellt: Jonny Inkslinger. Sein Name, „Tintenkleckser“, zeigt bereits die geringe Wertschätzung, die ihm seine bodenständigen Mitmenschen entgegenbringen. Was soll man auch von jemandem halten, der anstatt die Ärmel hochzukrempeln lieber eine Sonate komponieren oder sich mit griechischer Kunst oder spanischer Geschichte beschäftigen würde? Die lose verbundenen Szenen münden in ein Weihnachtsfest, das zu einem rechten Saufgelage wird. Die Pionierarbeit ist getan. Nun beginnt der amerikanische Alltag. Die ehemaligen Holzfäller bestellen ihre Äcker, der einfältigste von ihnen geht zur Regierung nach Washington, der Intellektuelle wird von Hollywood angeworben.

Michael McCown (Johnny Inkslinger; Bildmitte) und Ensemble

All das ist im Kern eine boshaft-ironische Abrechnung mit dem amerikanischen Selbstverständnis, dem der britische Exilant Auden satirisch verpackte Verachtung entgegenbringt. Sein Landsmann Benjamin Britten kam mit der Umgebung seines Gastlandes so wenig zurecht, daß er, zu Kriegsbeginn vor der drohenden Einziehung zum Wehrdienst geflohen, nach kurzem Aufenthalt reumütig in die britische Heimat zurückkehrte. Seine Musik zu Audens Libretto zeigt ein faszinierendes Amalgam aus Personalstil und zeitgenössischen amerikanischen Vorbildern. Es gibt Anklänge an Barbershop-Gesänge, Jazz, Folk. Gershwin und Weill lassen immer wieder grüßen. Über weite Strecken meint man, einem unmittelbaren Vorläufer von Leonard Bernstein zu lauschen. Auch wenn das Ganze unter dem Etikett „Operette“ firmiert, handelt es sich doch um ein Musical, das sich perfekt die Musiksprache des amerikanischen Exils zu eigen macht. Mit seinen wirkungsvollen Chor- und Ensembleszenen und schmissigen Songs hätte das ein Broadway-Hit werden müssen. Wurde es aber nicht. Die Amerikaner müssen gemerkt haben, daß das europäische Autorengespann ihrem Helden und seiner grobkörnigen Lebensphilosophie mit einer Mischung aus Ironie und Distanz gegenüberstehen.

Michael McCown (Johnny Inkslinger) und Ensemble (Holzfäller)

Im Bühnenbild von Johannes Leiacker muß das Land nicht mehr urbar gemacht werden. Es ist zugemüllt mit zerbeulten Riesen-Konservendosen, die natürlich Andy Warhol und seine Pop-Art-Erhöhung von „Campbells“ zitieren. Die Titelfigur tritt nicht in Person auf, sondern ist über der Szene als bartstoppeliger Riesenmund auf Holzgrund präsent. Zur Big-Brother-Haftigkeit dieses Bildes kommt die warme und sich freundlich gebende Sprechstimme von Nathaniel Webster, der man aber ebenso wenig trauen möchte, wie dem Computer HAL in Kubricks „2001“.

Brigitte Fassbaender hat sich dieses Stück für ihre zweite Frankfurter Regiearbeit gewünscht. Sie bezeichnet es als einen „Rohdiamanten“. Den hat sie mit ihrer unaufdringlichen Personenregie und unterstützt von der Choerographin Marie Stockhausen zu einem funkelnden Schmuckstück geschliffen. Der Abfolge von kraftvollen Ensembleauftritten und entspannten Solonummern geht nie der Atem aus. Man wird zwei Stunden lang gut und intelligent unterhalten. Fassbaender steht ein Ensemble aus jungen und ungeheuer engagierten Sängern zur Verfügung. Der Chor rekrutiert sich aus handverlesenen Studenten der Musikhochschulen Frankfurt und Mannheim. In den Solopartien dürfen sich einige Neuzugänge des Frankfurter Opernstudios bewähren. So machen Elizabeth Sutphen als Bunyans Tochter mit glockenreinem Sopran und Mikołaj Trąbka mit gut fokussiertem, angenehm gerundetem Bariton auf sich aufmerksam. Zu den Frankfurter Stammkräften zählt Michael McCown, der sich seit vielen Jahren mit großem Engagement in vielen Nebenrollen als Stütze des Ensembles erwiesen hat, und der nun endlich wieder einmal die Gelegenheit hat, sich in einer tragenden Rolle zu präsentieren. Er liefert ein vorzügliches Porträt des Intellektuellen Inkslinger ab. Sein heller und von Kopfresonanz geprägter Tenor kommt bei Britten ideal zur Geltung. In guter Verfassung zeigt sich erneut auch Michael Porter in der kleinen aber feinen Rolle als Koch und jugendlicher Liebhaber. Große Freude an ihren Rollen als kommentierende, sprechende Tiere haben Julia Dawson und Cecelia Hall mit genußvoll ausgesungenen Katzentönen und Sydney Mancasola als treudoofer Hund Fido.

Mikołaj Trąbka (John Shears), Elizabeth Sutphen (Tiny) und Michael McCown (Johnny Inkslinger) sowie im Hintergrund Sebastian Geyer (Hel Helson)

Das Orchester schließlich unter der souveränen Leitung von Nikolai Petersen hat ein ebenso gutes Gespür für die süffigen Broadway-Töne wie für den harmonisch geschärften Britten-Klang. Obwohl das Orchester links neben der Bühne platziert ist, kommt der Klang auf der Zuschauertribüne direkt, voll, zugleich transparent und gut durchhörbar an.

Allen Beteiligten ist der Spaß an der Sache anzumerken. Ob sich das Stück einen Platz im Repertoire erobern wird, darf man bezweifeln. Man wird es so bald also nicht wieder geboten bekommen, schon gar nicht in einer derart stimmigen Produktion. Ein Besuch der funkensprühenden Frankfurter Aufführungsserie kann daher uneingeschränkt empfohlen werden.

Michael Demel, 15. Oktober 2016

Bilder: Barbara Aumüller