Buchkritik: „Breaking free“, Die Welt des LGBTQ-Musicals

Ruf nach Freiheit

Was fängt ein Rezensent, der hoffnungslos heterosexuell ist und dessen Musicalerfahrungen sich auf My Fair Lady im Theater des Westens, La Cage aux Folles ebenda und auf The Rocky HorrorPicture Show in den Berliner Kammerspielen beschränken, mit einem Buch über Die wunderbare Welt des LGBTQ-Musicals, so der Untertitel, an? Breaking Free nach dem Song in einem Hochschulmusical heißt das Buch, als dessen Herausgeber auf dem Cover Kevin Clarke genannt wird, was mehr als bescheiden ist, denn auch die Mehrheit der Beiträge stammt von ihm, der sich trotz üppiger mehr als 300 Seiten, die er vorlegt, wünscht, dass sie nicht einen „Abschluss“, sondern einen „Anfang“ einer Diskussion in einem Land wie dem unseren, dass in Sachen Musical viel Nachholbedarf hat, werden. Toleranz herrscht glücklicherweise nicht nur in puncto Sexualität, sondern auch, was das Gendern betrifft. So kann sich der konservative Leser auch schnell von einem Satz wie: „Jeder*jede Autor*in wurde freigestellt, ob und wie sie*er ihre*seine Texte gendern will“, erholen.

Das Vorwort schrieb kein Geringerer als Barrie Kosky und betitelt es als Zeichen seiner Nichtkonventionalität mit einem „What the f***?!?“, was immer das heißen mag. Ansonsten geht er über das, was gerade mit seiner Biographie erschien, hinaus, wenn er  u.a. ausführlicher über seine Arbeit mit Kiss me, Kate berichtet, in der er in jeder Zeile Queeres entdeckte, über seine Gewissheit, die lautet: „Man braucht eine Schwuchtel an der Spitze des Theaterbetriebs“, um alle Besucher anzusprechen. Erstaunen erregt nicht nur hier die Ansicht, dass sich Schwule auch in der West Side Story als Ausgegrenzte erkennen, obwohl das deutsche Theater als „heteronormativ“ durchschaut wird, woraus folgt, dass man „Deutschland aus der Provinzialität herausholen muss“.

Weniger offenherzig, er ist schließlich Politiker, wenn als Kultur-Senator auch nur Ex, ist im Nachwort Klaus Lederer, der seiner Freude darüber Ausdruck verleiht, dass man sich an der Humboldt-Universität nun auch mit Musical und LGBTQ befasst.     

Zahlreich und durchweg interessant sind die vielen Interviews, die mit queeren Künstlern, die mit der Kunstform Musical zu tun haben, gehalten wurden. Die Interviewer sind Kevin Clarke und Nick-Martin Sternitzke. Es beginnt mit Ludwig Baumann, einst umjubelte Zaza nicht nur im Theater des Westens 1984 und vor kurzem in einer kleineren Partie in La Cage aux Folles in der Komischen Oper. Ihm wird wie fast allen Interviewten zunächst die Frage gestellt, welches sein allererstes Musical gewesen sei. Da werden köstliche Erinnerungen wach an Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller, Boy Gobert und Hildegard Knef, an Operntenor Donald Grobe, und hier wie bei fast allen Interviews wird deutlich, dass das Musical die Kunstform war und ist, mit der sich die Schwulen, die als erste vor allen anderen innerhalb des LGBTQ aus dem von der Gesellschaft verordneten Schatten heraustraten, identifizieren konnten und dass sie bei der Arbeit an demselben auch am häufigsten auf Gleichgesinnte trafen und treffen. Angenehm berührt die sachlich- nüchterne Art der Antworten, die auch Selbstkritik nicht ausschließen: „In Deutschland wollen alle nur sehen, was sie schon kennen. Das gilt auch für die Schwulen.“

Es folgen Interviews mit Stephanie Kuhnen, die dem nicht eingeweihten Leser Rätsel aufgibt mit einem „gendertypisch bibliophil, butchesk, und katzoman“, zu dem sie sich bekennt, die mehr Klarheit herrschen lässt, wenn sie meint, Musicals könnten sich als Coming-Out-Hilfe erweisen.

Nicht der Interviewte, sondern Interviewer ist Rosa von Praunheim, der Dagmar Manzel, Star vieler Produktionen der Komischen Oper, befragte und ihr die Absage an ein „aufgewärmtes spießiges Leben, das man sowieso schon immer um sich hat“, entlockt, die meint, Frauenbewegung und Schwulenbewegung würden einander bedingen.

Richard McCowen, ein schwarzer Musicaldarsteller, äußert sich im Interview angenehm nüchtern, berichtet einerseits davon, dass in den USA früher als in Deutschland das Schwarzschminken verpönt war, findet andererseits Schwarze mit blonder Perücke „toll“. Wie viele andere Befragte bedauert er die scharfe Grenze, die in Deutschland zwischen U- Und E-Musik gezogen wird.

Interessant auch für Historiker sind die Aussagen von Pierre Sanoussi-Bliss zum Leben eines schwulen Schwarzen in der DDR, die zwar auf dem Gesetzes-Papier fortschrittlicher war als der Westen, die aber praktisch Intoleranz übte und oft versuchte, Schwule zur Stasi-Mitarbeit erpressen, sie mit Drohgebärde zum Spitzeln zu bringen. Schockierend mag nicht nur für Heteros, sondern auch für Schwule das Bekenntnis sein, der Sänger habe für Schallplatten aus dem Westen Liebesdienste angeboten.

Wenn sogar Oma und Opa zufrieden waren, kann es ganz so schlimm, wie es der Befragte escheinen lässt, mit dem ersten Schwulen-Porno-Musical nicht gewesen sein. Der sich Hans Berlin nennende Interviewpartner Kevin Clarkes war HIV-positiv, als er über sein Bemühen (und seinen Erfolg), diese Gattung auf der Bühne zu etablieren, berichtet.

Aufgeklärt über Sex-Praktiken im Orient wird der Leser durch das Interview mit Yousef Iskander, der aus dem Libanon floh und mit der Verbindung verschiedenster europäischer und arabischer Elemente eine neue Kunstform schuf. In Deutschland sieht er inzwischen das Schreckgespenst der Zensur am Horizont, hofft aber, einmal die Sally Bowles spielen zu dürfen.

Wer kennt nicht die Geschwister Pfister, deren einer Teil Christoph Marti ist, besser bekannt als Ursli Pfister. Schon im Schillertheater spielte er Frauenrollen, empfindet sich als Schauspielerin in einem Männerkörper und bekennt: „Man darf vorm Trivialen keine Angst haben, wenn man Musicals macht.“ Nicht nur er singt das Lob des deutschen Stadttheaters, das oft mutiger ist als die großen Bühnen, die Angst vor dem Experiment haben.

Es folgen noch Interviews mit Rory Six, der noch immer eine Transfrau für sein Musical sucht, mit Brix Schaumburg, der bedauert, dass queere Menschen nicht im Grundgesetzt berücksichtigt werden und Transmenschen unterrepräsentiert im Musical sind. Auch Lyon Roque, der den Modeladen Trüffelschwein in Berlin hat, hat ein besonderes Thema mit der angeblichen sexuellen Unattraktivität von Asiaten, was das Thema des Colour-Blind-Casting aufs Tapet bringt.

Nicht immer einfach ist es, als Hetero die sonstigen Artikel des Buches zu verstehen, hat die Gemeinde von LGBTQ doch längst auch eine eigene Fachsprache entwickelt. Da Deutschland zudem in Sachen LGBTQ-Musicals ein hoffnungslos hinterherhinkendes Entwicklungsland ist, das weder mit Broadway, Off-Broadway, Off-Off-Broadway oder dem Londoner Westend mithalten kann, befassen sich die meisten Artikel mit diesen Paradiesen des wie immer gearteten Musicals. Diskussionswürdig ist die Behauptung, die in mehreren Artikeln auftaucht und die Nazizeit verantwortlich macht für die Beendigung einer Tradition – und das kann man nachvollziehen – aber auch dafür, dass eine Entwicklung wie in den englischsprachigen Ländern nach dem Krieg ausblieb. Da kann man schon eher den Ausführungen von Wollmann/Clarke folgen, die die Frankfurter Schule mit ihrer Verdammnis von allem Populären als eine wesentliche  Ursache für die Musical-Abstinenz ansehen.

Von der Musical Conference der Long Island University über die ab 2007 erscheinende Zeitschrift Studies in Musical Theatre bis hin zum Oxford Handbook of the American Musical wird eine Entwicklung verfolgt, während in Deutschland Volker Klotz noch eisern an der Vorstellung festhielt, Musicals seien minderwertig. Im Beitrag Musicals als Maske bezeichnet Clarke die Musicals als Zufluchtsort für Schwule, ehe sie ein breites Publikum fanden, in den USA wurden früh auch andere „Außenseiter“ einbezogen, und die Maske wurde zur Manier.

Nach Olivia Maria Schaaf spielten Peter Lund und die Neuköllner Oper lange Zeit eine wichtige Rolle für Lesben und Schwule, waren ein „offenes Versteck“ , was nichts daran änderte, dass lange Zeit Schwule in der darstellenden Kunst entweder böse oder komisch waren, das Schwein, das ein Hahn werden will, erste queere Wunschträume auf die Bühne brachte. Lesben tauchen relativ spät auf, so die Frozen-Elsa im Disney-Film. Meine drei Enkeltöchter allerdings haben sie nicht als solche identifiziert und hoffen im dritten Teil auf einen Gatten für die Königin.

Ulrich Linde gibt eine Übersicht über die Gay-Musicals der Siebziger, die erst möglich waren nach der Überwindung von Puritanertum und McCarthy, der nicht nur Kommunisten nachjagte. Durch Übersichtlichkeit und Faktenreichtum, den Abdruck von Dialogen und den umfangreichen wissenschaftlichen Anhang überzeugt dieser Aufsatz ganz besonders.

Brigitte Elisabeth Tautscher äußert sich in ihrer kommentierenden Inhaltsangabe über Falsetto, dem sie vorwirft, dass die weibliche Hauptrolle nach dem Outing des Gatten in einer neuen Ehe ihr Glück finden muss. Da wäre etwas Toleranz in die andere Richtung auch angebracht.     

Kay Link entdeckt Prince Charming in Cinderella als Fortschritt in der Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Liebesverhältnisse, setzt sich aber auch kritisch auseinander mit scheinbaren oder  tatsächlichen Diskriminierungen in Musicals.

Einen höhnischen Kommentar gibt Manuel Brug zum deutschen Musical-Geschehen ab, das die Massen in Bussen zu den Großereignissen chauffiert, wo aber nichts Queeres auszumachen ist . Gleichzeitig macht er sich zum Anwalt für Ute Lemper, deren Genie in Deutschland nicht wahrgenommen wurde. In keinem Verhältnis zueinander stehen seiner Meinung nach die zahlreichen Outings von Künstlern und die wenigen queeren Stücke.

Olaf Jubin wirft den Übersetzern von Songs ins Deutsche vor, dass sie vor der Unübersetzbarkeit der „signifikanten Symbole“ kapitulieren, dass Übersetzungen einen Text oft entsexualisieren.

Kevin Clarke steuert nicht nur einen Beitrag über das amerikanische Hochschul-Musical bei. Wie weit gespannt seine Interessen sind, zeigt er, indem er sich mit den Problemen schwuler Muslime, ausgehend von den Erlebnissen Lord Byrons im Orient, auseinandersetzt. „Cyanide wrapped in Chocolade“ könnte man auch die Frage nennen, ob Homosexualität und Christentum oder Islam miteinander vereinbar sind, und dieser widmet sich Clarke kenntnisreich, einfühlsam und engagiert.

Über den Beruf des Musicaldarstellers in Zeiten von Identitätspolitik äußert sich Till Randolf Amelung, mutig über die White-Washing-Hysterie (siehe Absage in der Arena di Verona 2022), die Inflation von Vorwürfen, man habe jemanden verletzt, über den „virtuellen Mob“. Da hilft wohl nur eine gemeinsame Abwehrfront von Heteros und LGBTQ.

Noch einmal historisch wird es mit Clarkes Beitrag über Trans und Travestie im Musical, deren Anfänge der Verfasser bereits in Gefangenenlagern sieht, für die er viele Beispiele aufzuführen versteht, aber auch hier den tiefen Einschnitt, den AIDS bedeutete, anerkennen muss. Auch die Präsidentschaft Trumps diente nicht dem Fortschritt auf diesem Gebiet, aber man kann beruhigt sein, denn der Verfasser sieht die „Forschung auf dem Vormarsch“.

Disney kommt beim Thema Diversity im Beitrag von Ralf Rühmeier nicht gut weg, muss sich einem Plädoyer für einen Cinderello oder einer Prinzessin, die statt des Prinzen den Schuh bringt, stellen. David Savran aber stellt betrübt fest: „(In Deutschland) bleiben doch Gender und Sexualität so etwas wie ein blinder Fleck.“

Zumindest dürfte das fakten- und informationsreiche Buch, das sich außerdem durch sein Engagement für das LGBTQ-Musical und seine Anhänger auszeichnet, für etwas Glanz sorgen.

Ingrid Wanja, 1. Juni 2023

mit freundlicher Genehmigung von Operalounge.de


Kevin Clarke (Hrsg.)

Breaking free“ – Die wunderbare Welt des LGBTQ-Musicals

Querverlag GmbH 2022 Berlin

320 Seiten

ISBN 978 3 89656 322 4