Buchkritik: „Das Echo der Zeit“, Jeremy Eichler

Das Echo der Zeit nennt sich ein 465 Seiten umfassendes Buch von Jeremy Eichler mit dem Untertitel Die Musik und das Leben im Zeitalter der Weltkriege. In diese Zeitspanne fügen sich zumindest Teile des Lebens von vier ausgewählten Komponisten, nämlich Richard Strauss, Arnold Schönberg, Benjamin Britten und Dmitri Schostakowitsch und vier Orte, die für ihr Schaffen bedeutsam waren, nämlich Garmisch-Partenkirchen, Los Angeles, Coventry und Babyn Jar, dazu vier Werke, die vom Zweiten Weltkrieg geprägt wurden, Metamorphosen, Ein Überlebender aus Warschau, War Requiem sowie die 7. (Leningrader) und die 13. Sinfonie Schostakowitschs.

Es beginnt und endet jedoch mit der jüdischen Familie Mendelssohn-Bartholdy, insbesondere mit Moses und Felix, dessen vierzig Jahre nach seinem Tod errichtetes, von den Nazis geschleiftes und nach dem Krieg wiedererrichtetes Denkmal der Autor mehrmals aufgesucht hat und dessen Betrachtung ihn zu dem Fazit bringt, dass allein die Musik, nicht das Denkmal in der Lage sei, die „Sensibilität zu schaffen“, die verhindern könne, dass sich die Gräueltaten des 20.Jahrhunderts wiederholen.

Quasi als ein Gleichnis sieht er die aus der Grimm’schen Märchensammlung stammende Geschichte vom Juden im Dorn an, in der der das eigentliche Opfer einer Untat schließlich gehenkt wird.

Ganz zu Beginn jedoch stellt der Verfasser einen verträumt an dem später als Goethe-Eiche verehrten Baum lehnenden Dichterfürsten einen KZ-Häftling gegenüber, der aus dem nach einem Luftangriff auf das KZ Buchenwald halb verkohlten Baumstumpf eine Totenmaske schnitzt. Hier und immer wieder wird deutlich, wie sehr dem Autor der hohe Anspruch und das große Ansehen der deutschen Kultur, insbesondere der Musik im Kontrast zu den unbeschreiblichen Gräueltaten von Angehörigen des Volks, das sie hervorbrachte, zu schaffen macht.

Der Autor ist ein amerikanischer Jude mit wohl deutschen Wurzeln, und so ist es verständlich, dass sein Buch sich mehr (Strauss) oder weniger mit dem Verhältnis der vier Komponisten zum Judentum oder zu einzelnen Juden beschäftigt. So wird, was Richard Strauss betrifft, das zu Stefan Zweig betrachtet, aber auch das Einspringen für den entlassenen Bruno Walter, wobei vergessen wird, dass das entsprechende Orchester Strauss darum bat und dieser dem Orchester seine Gage überließ. Hin und wieder schleichen sich in die umfassenden und von Leidenschaft für das Sujet geprägten Ausführungen auch Fehler ein, so die Annahme, dass Strauss seine beiden Enkelsöhne davor bewahrte, die Armbinde mit dem Judenstern, zu deren Tragen auch „Mischlinge ersten Grades“ verurteilt gewesen wären, umbinden zu müssen. Da wird eine Armbinde mit dem anzuheftenden Judenstern verwechselt, den übrigens Menschen mit nur einem jüdischen Elternteil nicht trugen. Insgesamt aber ist der Leser von der Wissensfülle des Buches überwältigt, von der unüberlesbaren tiefen Liebe Eichlers für die Musik gerührt. Diese allerdings hindert ihn nicht daran, Verhaltensweisen während der Naziherrschaft vom Standpunkt dessen, der wusste, wie alles endete und was wirklich geschah, wesentlich schärfer zu beurteilen als zum Beispiel das Verhalten eines Schostakowitsch in der Diktatur Sowjetunion. Das wundert etwas, wenn er selbst mitteilt, dass die jüdische Schwiegertochter Strauss‘ nach dem Kriege versicherte, man habe erst nach Kriegsende von den Gräueln der KZs erfahren. Stellenweise hat man den Eindruck, der Autor leide selbst an einem Hin- und Hergerissensein zwischen der Bewunderung der Strauss’schen Musik und dem Abscheu gegenüber dessen Verhalten im Dritten Reich. Selbst bei der Betrachtung von Gedenktafeln für gefallene Garmischer, die deren Familien veranlassten, drängt sich ihm die Vorstellung auf, der eine oder andere hätte ein Täter sein können.

Es geht weiter mit Arnold Schönberg, dessen Bestreben es war, der deutschen Musik ihre Weltgeltung zu sichern und der doch fern von Wien oder Berlin im sonnigen Kalifornien sein Leben beschließen musste. Die Entstehungsgeschichte von A Survivor from Warsaw, die Luigi Nono als den dritten Akt der unvollendeten Moses und Aron ansah, die immerhin mit Sherill Milnes, aber ansonsten unzureichenden Kräften gestaltete Uraufführung in den USA, die über die Grundstein nicht hinausgelangende Errichtung eines amerikanischen Holocaust-Denkmals sind Gegenstand der Schönberg gewidmeten Kapitel, in denen auch eine Auseinandersetzung mit Adornos Meinung, man dürfe menschliche Qual nicht in ästhetischen Genuss umwandeln, ihren Platz hat. Mit dem Bericht von der Überführung der Asche Schönbergs von Los Angeles nach Wien endet der erste Teil des Buchs.

Im zweiten Teil geht es um Brittens War Requiem und Schostakowitschs 7. Sinfonie, auch Leningrader genannt, und seine Vertonung von Jewtuschenkos Babyn Jar, um die späte Freundschaft zwischen beiden Komponisten, deren einer von der Diktatur gequält, der andere durch Kriegsdienstverweigerung und Homosexualität stigmatisiert war. Obwohl sich Britten danach gedrängt hatte, Menuhin auf seiner Konzertreise für DPs zu begleiten und unter anderem das Konzentrationslager Bergen-Belsen besucht hatte, blieb dieses Erlebnis ohne Folgen für die Gestaltung des War Requiems, was den Verfasser ebenso mit Verwunderung erfüllt wie die Tatsache, dass die Briten sich mit nur einem Gedenkstein für die Toten beider Weltkriege begnügen. Hier und immer wieder ist man über die hoch poetische Sprache des Autors erstaunt, wenn man Sätze liest wie: „Die Jahre zerschmolzen, und die Vergangenheit trieb einfach so dahin, befreit von der Herrschaft der Zeit.“

Der letzte Teil des Buches widmet sich Babyn Jar und der hier stattgefunden habenden Ermordung von 33 000 Juden aus Kiew durch die Nazis, der Verschweigung des Verbrechens durch die Sowjets und dem Gedenken durch Jewtuschenko und Schostakowitsch. Voraus geht jedoch der Beitrag über die 7. Sinfonie und das 2. Klavier-Trio, die Rolle Ilja Ehrenburgs wird erörtert, allerdings nicht sein in Deutschland bekannter Aufruf, die deutschen Frauen betreffend. Auch hier spürt der Verfasser jüdischen Elementen nach, so im Trio, ist enttäuscht über die Unauffindbarkeit der Schlucht, in der die Kiewer Juden starben, und deckt auf, wie die Sowjets sogar noch 1970 versuchten, neben den Nazis die „Zionisten“ für das Verbrechen verantwortlich zu machen.

Am Schluss findet der Leser den Autor am Fuß des Mendelssohn-Denkmals in Leipzig, an dem er noch einmal daran erinnert, wie der Komponist mit der Aufführung von Bachs vergessener Matthäus-Passion die „Grundlage für eine neue Kulturnation“ geschaffen habe, und er verabschiedet sich von dem Buch mit Staunen und Bewunderung für des Verfassers Wissen um und Liebe zur Musik und mit der Einsicht, dass eine gewisse Akzentsetzung mehr als nachvollziehbar ist.

Der reichhaltige Anhang umfasst Danksagung, Bildnachweise, Zitatgenehmigungen, Anmerkungen, Personenregister.

Ausdrücklich hervorzuheben ist die einfühlsame Übersetzung ins Deutsche durch Dieter Fuchs.

Ingrid Wanja, 23. April 2024


Jeremy Eichler:
Das Echo der Zeit – Die Musik und das Leben im Zeitalter der Weltkriege

Klett Cotta 2024
463 Seiten
ISBN 978 3 608 96586 5