Buchkritik: „Handbuch der Oper“, Kloiber/Konold/Maschka (Hrsg.)

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Die nunmehr 16. „aktualisierte und erweiterte Auflage“ des Handbuchs der Oper, 1952 ins Leben gerufen von Rudolf Kloiber, fortgeführt von Wulf Konold und inzwischen, ab 2002, verantwortet von Robert Maschka und zunächst vom Bärenreiter Verlag allein, inzwischen auch von Metzler herausgegeben, ist nunmehr erschienen und kann die frohe Nachricht verkünden, dass in sie zum ersten Mal auch 22 Operetten in den mehr als 1000 Seiten umfassenden Band aufgenommen wurden. Damit will man der Feststellung, dass Opernhäuser sich mittlerweile auch dieser Gattung widmen, Rechnung tragen, scheint sich allerdings, wie das Vorwort zur neuesten Ausgabe verrät, auch mit Gewissensbissen geplagt zu haben wegen der strengen Moralkeule, die gegenwärtig über dem Lachen über die Komische Alte oder der Verwendung des Begriffs Zigeuner geschwungen wird. Da ist es dem Buch hoch anzurechnen, dass es die „humoristischen Wirkungsmöglichkeiten“ der Gattung nicht bewertet, sondern nur dokumentiert, jedoch nachvollziehbar den heiteren Ton für „nicht durchhaltbar“ findet und stattdessen über die Verfolgung der zu einem großen Teil jüdischen Autoren und Komponisten berichtet. Dass man geradezu erleichtert feststellt, die Volksgruppe der Sinti und Roma sei in der Operette nur mit durchweg positiven Figuren vertreten, wirft ein recht grelles Licht auf die wohl verbreitete Besorgnis, etwas Falsches zu sagen oder gar nachweisbar zu schreiben.

Es ist gut, dass auch das Vorwort zur vorletzten Ausgabe von 2016 im neuen Band enthalten ist, denn mit diesem gewinnt man einen weit besseren Einblick in das Vorhaben und die im Verlauf der Jahrzehnte erfolgten Änderungen. 327 Opern von 135 Komponisten waren vertreten, der Opernführer spiegelte das Opernleben wider, indem er sich an den Aufführungszahlen und dem Kanon der Opernhäuser orientierte, und er sieht sich als „praktische Orientierungshilfe“. Vor acht Jahren teilte man dem Benutzer des Handbuchs mit, dass zwar das komische Genre des 18. und 19. Jahrhunderts, dazu dürfte auch ein Lortzing (nur noch mit Wildschütz und Zar und Zimmermann vertreten) gehören, an Platz eingebüßt, dafür aber der italienische Belcanto gewonnen habe und die Oper der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stärker vertreten sei. Es ging jedoch nicht nur um Streichungen oder Neueinsetzungen, sondern auch Ergänzungen, die sich durch ein anderes Schriftbild identifizieren lassen, wobei Gestrichenes noch auf Links auffindbar ist.

Das Werk beginnt, soweit es die Opern betrifft, mit AdamsNixon in China, dem knapp fünf Seiten gewidmet sind, und endet mit Udo Zimmermanns Die weiße Rose, der gut eine Seite zugedacht werden. Das taugt zum Beweis dafür, dass jüngeren Werken nicht weniger Platz eingeräumt wird, weil sie etwa noch nicht über eine lange Aufführungstradition verfügen, denn auch eine Oper wie Kaija Saarahos L’amour de loin, die vielleicht in der nächsten Ausgabe gar nicht mehr vertreten sein wird, bringt es auf fünf Seiten, von denen besonders viel Platz der mittelalterlichen Dichtung eingeräumt wird. Händels Tamerlano bringt es wegen einer ausufernden Handlung immerhin auf mehr als fünf Seiten. Jeder Artikel schließt mit dem Kürzel des jeweiligen Verfassers.

Von jeder Oper gibt es ein Personenverzeichnis mit Stimmfach, wobei man sich an die 1952 eingeführten Fächer gehalten hat, dann folgen Schauplätze, Zeit der Handlung, Gliederung und Spieldauer. Ausführlich wird die Handlung dargestellt, für Lucia di Lammermoor anderthalb Seiten, darauf folgen stilistische Stellung, Textdichtung, Geschichtliches, wozu auch die Nennung berühmter Interpreten gehört. Das lässt deutlich werden, dass das Werk weit über gängige Opernführer hinausgeht und ihm tatsächlich eine Sonderstellung zuteilwerden kann, es zu Recht vor allem, aber nicht nur für enger an die Gattung Oper gebundene Personen gedacht ist. Eine besondere Bedeutung kommt dabei natürlich der Rubrik Stilistische Stellung zu, aber auch die Inhaltsangaben gehen weit über das von einem Opernführer Gewohnte hinaus.

Mozart ist mit allen, auch den frühesten Werken des Knaben Wolfgang vertreten, von Verdi hingegen fehlen Oberto, Un Giorno di Regno, Alzira, Stiffelio und Araldo sowie Giovanna d’Arco, was nicht durchweg bedauerlich ist, wohl aber in Bezug auf Un Giorno di Regno, die einzige Komödie außer Falstaff, und Giovanna d’Arco, die eine Art Renaissance nicht zuletzt durch die Interpretin Anna Netrebko erlebte. Dem Belcanto widerfuhr zwar inzwischen mehr Gerechtigkeit als in früheren Ausgaben, doch vermisst man noch Bellinis Beatrice di Tenda, Donizettis Maria di Rohan, und bei dessen Lucrezia Borgia hätte schon ein Hinweis auf die 2023 erfolgte Uraufführung von Dalinda, eine Umarbeitung des zensuranfälligen Stoffs durch die Berliner Operngruppe, erfolgen können. Auch die Bemühung der Deutschen Oper Berlin um Giacomo Meyerbeer trug keine Früchte, denn von ihm sind nur Der Prophet und Die Hugenotten zu finden, nicht einmal Die Afrikanerin oder Vasco da Gama. Schien da der Titel zu heikel zu sein?

Nun hat jeder Opernfreund seine Vorlieben und hält für der Vernachlässigung wert, was anderen teuer ist. Trotz kleiner Einwände bleibt Das Handbuch der Oper eines der wichtigsten, wenn nicht gar das allerwichtigste Nachschlagewerk für alle, die sich professionell oder als Liebhaber der Gattung verbunden fühlen.

Im umfangreichen Anhang findet man die Rubriken Besetzungsfragen, Fachpartien, Register zum Opernteil, geordnet nach Komponisten, Operntiteln und Librettisten, das Gleiche gibt es für die Gattung Operette.

Ingrid Wanja, 12. April 2024


Handbuch der Oper
Herausgegeben von Rudolf Kloiber, Wulf Konold und Robert Maschka

Bärenreiter/Metzler

16. Auflage 2024
1025 Seiten
ISBN 978 3 76187300 7