Bücherecke: „Richard Wagner: Sämtliche Briefe“, Band 26

Wichtiger als jegliche Wagner-Sekundärliteratur sind, das sollte einleuchten, Quelleneditionen. Denn jede Publikation eines authentischen Wagner-Dokuments vermag unseren Blick auf Wagner zu erweitern. Dies gilt in besonderem Maß für die vielen Tausend Briefe, die Wagner bis zum 11. Februar 1883 schrieb. Jetzt erschien endlich der 26. Band der Sämtlichen Briefe, mit dem die Lücke zwischen 1873 und 1875 geschlossen werden konnte, womit nun nicht weniger als 304 erschließbare Briefe des Jahres 1874 dokumentiert werden können, von denen 70 bislang unveröffentlicht, 13 nur auszugsweise und viele nur an entlegensten Stellen publiziert worden waren. Die meisten dürften selbst eminenten Wagner-Kennern also unbekannt sein; ein einziges Lesevergnügen bietet der Band schon deshalb, weil selbst die meisten der nur indirekt bezeugten Briefe mit ausgiebigen Kommentaren erläutert werden.

1874: Dies war das Jahr, in dem das Festspielunternehmen fast vor dem Abbruch stand, Wagner durch eine königliche Zusage seine Sänger und technischen Mitarbeiter engagieren, sein neuerbautes Haus beziehen und die Komposition des Rings beenden konnte. Immerhin 290 Briefe können komplett oder wenigstens auszugsweise präsentiert werden, wobei die größte Menge diesmal auf Carl Voltz fällt. 24 Briefe an Wagners Rechtevertreter bezeugen vor allem und verstärkt die Nöte, die Wagner mit dem furchtbaren, die Honorare und ihre maßlosen Provisionen eintreibenden „Agenten“-Pärchen Voltz & Batz hatte. 23 Briefe gingen an Friedrich Feustel, neun an Adolf Groß. Geht es in den meisten Schreiben des Jahres 1874 nicht um die Kunst, sondern um die Schaffung von Voraussetzungen zur Herstellung der Reproduktion von Wagners Kunstwerk der Zukunft, das 1876 endlich Wirklichkeit werden sollte, so konzentrieren sich die Briefe an Wagners Bankier und Festspielverwaltungsratsmitglied sowie an dessen Schwiegersohn auf die Finanzierung von Wagners zwei großen Bauprojekten: das Festspielhaus, v.a. aber Wahnfried, dessen „Bauconto“ 1874 arg strapaziert wird.

Die Briefe zu den Details der Wahnfried-Ausstattung, zur Schaffung der Büsten des Hausgründers und seiner Frau gehören zu den Zeugnissen eines privaten Wagner, der sich inmitten größter organisatorischer und bautechnischer Probleme einen Privatraum mit einem „götterdämmerlichen Wahnfried Leben“ zu schaffen weiß. Während sich Wagner um das Treppengeländer und andere Details kümmert, steht das Festspielprojekt auf der Kippe. Erst nach langen Diskussionen wird es durch eine Zusage König Ludwigs II. fürs Erste gesichert. In diesem Licht erscheint Wagners zuvor geäußerte Idee, die ersten Ring-Vorstellungen als „Lustralfeier“ für das Kaiserreich über die Bühne gehen zu lassen, nicht allein als Versuch, neben Bayern auch das Reich zur Zahlung zu animieren. Der Vorschlag, in einem Brief an Emil Heckel, passt durchaus zum monarchistischen und antidemokratischen Einschlag, den Wagner in seinen Briefen an Ludwig II. formuliert. Spannend wird die Lektüre der Briefe dort, wo die Vollendung des Ring mit wie auch immer motivierten positiven Gedanken zum Kaiserreich und zum kritisch gesehenen Parlamentarismus einhergeht. Auch mit dem Brief-Material könnte die Frage gestellt werden, wie sich der Ring zu Wagners privaten und literarisch fixierten Idiologemen verhält, ja: ob es überhaupt sinnvoll ist, Werk, Leben und Literatur abstandslos aufeinander zu beziehen…

Vom Abschluss der Partitur der Tetralogie, deren letzte Takte, 26 Jahre nach Arbeitsbeginn, am 21. November geschrieben werden, erfährt man aus den Briefen schon deshalb nichts Bedeutendes, weil Wagner, der die Zeit der Schreibarbeit am Großwerk den in den Briefen ablesbaren Malaisen abgewinnen muss, seine Kräfte zugunsten der festspielmäßigen „Mühen der Ebenen“ (Brecht) und der Familie aufspart. Geht es ansonsten um das Werk, so um die Herstellung eines spielbaren Klavierauszugs der Götterdämmerung, um die Korrekturen der Walküre-Partitur vor ihrer in diesem Jahr erfolgten Drucklegung, um die Organisation von Blechblasinstrumenten für die Vorproben des Sommers 1874 und um die Einrichtung von Harfenstimmen für den Ring, nicht zuletzt um die Rechte am Druck des Ring-Textbuchs. Durchaus nicht nebenbei plant Wagner eine Reihe von Orchesterkompositionen, vorgeschlagen wird vom Leipziger Verleger Julius Friedländer auch ein „Orchesterwerk über Themen aus Ihren Nibelungen“, das man gern gehört hätte.

Wagners Unternehmungen zeugen von einem bedeutenden Teil der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. In den Briefen wird die oft mühevolle Praxis offenbar, von der die komplexe Partitur des Ring nichts weiß. Erst mit der Zurkenntnisnahme aller einschlägigen Briefzeugnisse vermag man einige der Probleme zu ermessen, mit denen die Realisatoren der ersten kompletten Ring-Aufführung es zu tun hatten. Nicht wenige Briefe des Jahres ventilieren daher ein einziges Thema: das Engagement des im Herbst zurecht geschassten Bühnenbildners Josef Hoffmann, des Theatermaschinisten Carl Brandt, der Theatermaler Brückner, des Dirigenten Hans Richter, des Sängerensembles und der Orchestermusiker. Das alles ist spannend wie ein Krimi.

Um es mit zwei Sätzen zu sagen: Wer Wagner verstehen will, muss den ganzen, selbst vielen Wagnerfreunden und –„Kennern“ noch meist unbekannten, hinreißenden Belletristen Wagner studieren. Der wieder einmal äußerst wohlgeratene neue Briefband tut dabei beste Dienste.

Frank Piontek, 23. Februar 2024


Richard Wagner: Sämtliche Briefe, Bd. 26. Briefe des Jahres 1874.

Breitkopf & Härtel 2018, 574 S. 74 Euro.